Kapitel 1: Weiterdenken

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 Bellas Sicht

Irgendwann hatte ich aufgehört die Tage zu zählen. Sie waren gleichbleibend, jeder genau wie der vorherige, grau und nichtssagend, wie ein einheitliche Brei. Über den Daumen gepeilt konnte ich abschätzen, dass es bereits zwei Monate lang so verlief. Zwei lange, verzweifelte und ja, beinahe unerträgliche Monate, seit die Cullens sich aus meinem Leben gestohlen hatten.

Zwei Monate, die ich in mich gekehrt lebte, mich der Außenwelt und ihrer zahlreichen Facetten abwandte und mich dem Sturm in meinem Herzen stellte, mehr oder weniger erfolgreich. Vor allem kamen sie mir unendlich lang vor, weil ich nicht absehen konnte, wann dieser Zustand des bloßen Aushaltens, ein Existieren ohne wirklich mein Leben zu bestimmen, überstanden sein würde. Ich kam mir vor wie eine der dünnen Birken, die vor dem Haus die Auffahrt säumten und die ich aus meinem rostroten Transporter betrachtete. Sie sahen seit dem Wirbelsturm, der im September über Forks gezogen war, reichlich mitgenommen aus, viele der Äste waren abgeknickt und lagen verstreut und ineinander verhakt in den Vorgartenbeeten und auf dem Asphalt. Der Wind hatte sie mit roher Gewalt geschüttelt und ihre Blätter und Zweige abgerissen, und auch nach zwei Monaten waren die Ausmaße des Sturms noch deutlich zu erkennen. So wie auch in meinem Inneren mein persönlicher Sturm Spuren hinterlassen hatte. Noch etwas hatte ich mit den Birken gemein: Sie vegetierten. Machten nichts, agierten mit niemandem. Hielten sich ganz für sich und gingen nicht auf ihre Freunde ein, bis diese nicht mehr anriefen.

Ich schob das Aussteigen aus meinem warmen Fahrerhaus vor mir her, da es draußen, typisch für Forks, Washington bei unangenehmen fünf Grad stürmte und regnete, und abermals fiel mein Blick aus meinem Transporter hinaus auf die Birken. Die wichtigste Gemeinsamkeit zwischen uns hatte ich übersehen, dachte ich überrascht: Nächstes Frühjahr, würden sie immer noch dort stehen, da war ich mir sicher. Sie würden wieder erstarken, wieder hellgrüne Blätter bekommen und den Sturm hinter sich lassen. Darüberstehen.

Würde das bei mir auch so einfach möglich sein? War ich bereit, mir eine neue Chance zu geben?

Scham brannte auf meinen Wangen, heiß und feuerrot, als mir klar wurde, wie kontraproduktiv mein gesamtes Verhalten über die letzten Wochen hinweg gewesen war. Ich erschrak über mich selbst. Was war aus meinen Anstrengungen geworden, jede Emotion zu unterdrücken? Bloß um mich schuldig zu fühlen. Nicht nur hatte ich mich so sehr in meinem Leid eingeigelt, sondern auch alles und alle um mich herum vernachlässigt. Obwohl es nicht meine Schuld gewesen war, dass diese Familie aus Fabelwesen sich ausgerechnet in meiner Heimatstadt niedergelassen hatte und dass sich die Dinge so ereignet hatten, wie sie vielleicht hatten kommen müssen, so hatte ich diesen Wesen, insbesondere einem, unglaubliche Macht über mich verliehen. Und das, obwohl sie allem Anschein nach jegliches Interesse an mir als Person verloren hatten. Es lag meine Verantwortung, nicht die Gedanken einer Person über mich zu kontrollieren, sondern mein Umgang damit. Mehr als Verantwortung, es war alles, was in meiner Macht lag.

Das konnte, und wollte ich, wie ich plötzlich bemerkte, verändern; ich wollte aufhören, mir die Schuld für etwas zu geben, das ich nicht hatte beeinflussen können. Ich nahm mir vor, mir zu vergeben und merkte, wie sich das klaffende Loch, das seit zwei Monaten in meiner Brust klaffte, sich pulsierend mit etwas Warmen füllte. Mir war klar, dass es damit noch längst nicht geschlossen war und dass ein langer und hürdenreicher Weg vor mir lag.

Doch ich war es leid, nur zu existieren und nichts mehr zu tun was mich erfüllte. Stattdessen wollte ich das Beste aus meiner Situation machen, und das war: weiterzudenken, loszulegen, Pläne zu schmieden und in die Zukunft zu sehen. Nicht ganz im Sinne wie es eine mir nur zu vertraute und heißgeliebte Freundin zu tun pflegte (daran zu denken ließ mich trotz allem nach wie vor kurz zusammenschrecken) sondern mir zu überlegen, was ich nach meinem Highschoolabschluss gerne mit meinem Leben anstellen würde.

Der Regen hatte nachgelassen und die Dunkelheit setzte ein, da die Tage wieder kürzer wurden, ganz natürlich für Mitte November. Ich schnappte mir meinen Rucksack und kramte in meiner Jackentasche nach dem Haustürschlüssel. Charlie war noch nicht zu Hause, also schlug mir im Haus nur Stille entgegen und obwohl ich sie genoss beschloss ich, etwas Neues zu wagen. Kleine Schritte, dachte ich bei mir, und trotzdem wusste ich, dass sie ein Fortschritt waren. So nahm ich mein Handy aus der Schultasche und suchte nach der Musik, die ich nach so vielen stillen und dennoch ruhelosen Tagen am liebsten hören wollte. Als ich mich überraschenderweise bei Hardrock auf Spanisch wiederfand, überlegte ich, was ich Charlie sagen würde. Er tat mir wirklich leid. Der gute alte Charlie, auch ihn hatte meine düstere Stimmung sehr mitgenommen, und ich wusste nicht mehr, wie oft er versucht hatte, mich dazu zu bringen mit ihm oder einem Psychologen über das zu reden, was mir vor einigen Monaten damals im Wald zugestoßen war. Doch hatte ich es vorgezogen mich in Selbsthass zu weiden, und mir diente als perfekte Ausrede vor mir selbst, dass mich niemand ernst nehmen würde, wenn ich anfinge, von Vampiren zu erzählen.

Da hörte ich Charlies Schritte im Flur und wappnete ich mich darauf, ihm von meiner Entscheidung zu erzählen.

(1) Vulnerability is a sign of strength: Bis(s) zum Sonnenaufgang (TWILIGHT-FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt