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Die nächsten Tage verstreichen ins Land und ich bewege mich kaum aus meinem Zimmer.
Der dritte Advent kommt und geht.
Das Haus füllt sich mit Gästen, die lachen, ihre Gläser zusammenstoßen und auf das Leben trinken. Ich tauche kein einziges Mal auf.

Wenn es leiser wird, setze ich mich ins Wohnzimmer und betrachte die prunkvoll geschmückte Tanne.
So verbringe ich meine Tage ohne weitere Zwischenfälle. Ich bin zu taub, um mich dazu aufzuraffen, meine Sachen zu packen und nach Hause zu fahren.
Zudem weiß ich, dass dort Emil auf mich warten würde und ich kann ihm jetzt nicht in die Augen blicken.

Wie soll ich erklären, dass ich mit einem anderen geschlafen habe? Ein ganzes Wochenende lang.
Vor ein paar Tagen habe ich mich mit meiner Mutter ausgesprochen.
Sie kam zu mir, entschuldigte sich mehrfach und verspracht, mich nächstes Jahr mit Dad zu besuchen.

Ich weiß, dass sie es nicht tun werden. Aber ich habe das Kriegsbeil und damit die unangenehme Stimmung im Haus begraben - auch, wenn mich mein Vater immer noch strafend unter seinen buschigen Augenbrauen hervor ansieht.
Es ist komisch wieder wie früher in meinem Zimmer zu liegen und nichts zu tun. Meine Brüder nur ein paar Räume weiter.
Der Unterschied ist nur, dass sie jetzt ihre Frauen haben. Und ich höre ihr Lachen beinahe alle zehn Minuten.

Ich rolle mich auf die Seite und schaue auf die Uhr. Es ist kurz vor eins. Ich muss mich fertig machen.
Denn heute, zum vierten Advent, hat meine Familie wieder zum Adventsessen eingeladen und ich kann mich nach unserer Aussöhnung nicht mehr davor drücken.

Ich schlüpfe in ein blaues Hemd, das ich mir von Ben geliehen habe.
Am allerwenigsten kann ich jetzt noch prüfende Blicke aufgrund meiner Kleidungswahl gebrauchen.
Vor dem kleinen Spiegel schließe ich die letzten Knöpfe und rolle mit den Schultern.
Ein letztes Mal probe ich mein Lächeln und das höfliche Nicken, dass ich gleich hinterherschieben will, um Interesse zu zeigen.

Unten klingelt es an der Tür.
Noch ein letztes Mal atme ich tief durch und fahre über meine frisch gewaschenen Haare.
Der Weg die Treppe hinunter fühlt sich an, wie ein Abstieg vom höchsten Berg der Welt. Doch das war rein gar nichts zu dem Schmerz, der sich jetzt in mir ausbreitet, als ich ihn in unserem Flur stehen sehe.

Bradyn.
Seine Augen huschen zu mir auf der Treppe. Ich bin wie angewurzelt stehen geblieben und klammere mich an der verdammten Tannengirlande am Handlauf fest. Das Plastik sticht in meine schwitzigen Handflächen und ich begrüße den Schmerz.

Bradyn trägt einen braunen Pullover mit V-Ausschnitt, dazu eine schwarze Hose. Seine blondgefärbten Haarspitzen hat er mit einem Haarband aus dem Gesicht gebunden.
So fallen seinen geschwungenen Augenbrauen viel besser auf und sein markantes Kinn dominiert sein Profil, als er sich zu meiner Mutter dreht und sie in die Arme schließt.

Ich stehe wie ein unsichtbarer Schatten auf der Treppe und beobachte sie.
Er gehört hier her. Und ich nicht.
Bradyn wirft den Kopf zurück und klatscht in die Hände, er lacht aus voller Seele und die kleinen Falten um seine Augen tanzen.
Vor einer halben Ewigkeit fuhr ich noch mit meinen Fingern über sie.

Ich kann meine Augen nicht von ihm nehmen.
Er hängt seine Jacke in die Garderobe, dreht sich um und nimmt ihre Hand. Die Hand von der jungen Frau, mit der er gekommen ist.
Er nimmt ihre Hand und führt die blonde Barbiepuppe in unser Wohnzimmer.
Das rote Kleid betont ihre schmale Taille und ihre langen Beine.
Er hält ihre Hand und führt sie zu den bereits eingetroffenen Gästen.

Er zeigt allen, dass sie zu ihm gehört. Weil sie eine Frau ist.
"Mica? Kommst du?"
Mein Vater ist am Fuß der Treppe aufgetaucht und blickt fragend zu mir auf.
"Ja, Dad, schon da."

Und so folge ich meinem Vater, dessen Hand ich jetzt am liebsten ergriffen hätte, um etwas halt zu finden.
Ich strauchele zum Tisch und trete meine Begrüßungsrunde an.
Ich sehe normal aus. Ein normaler 24-jähriger Mann in blauem Hemd und nicht in einem giftgrünen Pullover mit roter Glitzerschrift und ausgefranstem Kragen.

Anderes als beim ersten gemeinsamen Essen mit Bradyn steche ich nicht mehr hervor. In den paar Wochen habe ich mich wieder angepasst.
Ich umrunde den Tisch und strecke die Hand zu Bradyn. Er blickt verwirrt auf sie herunter, dann schüttelt er sie zaghaft.
"Schön dich hier zu sehen", sage ich und es kostet mich so viel mehr, als mir lieb ist zuzugeben, nicht in Tränen auszubrechen.

In meiner Wirbelsäule scheint ein Metallstab zu stecken, der mich aufrechterhält.
"Schön wieder hier zu sein. Darf ich dir Tiffany vorstellen?"
Ich nehme Tiffanys Hand in meine und drücke etwas fester zu als nötig.
Tiffany? Ernsthaft? Das ist der bescheuertste Name, den ich seit langem gehört habe.

"Schön dich kennenzulernen, Mica."
Ich nicke und entferne mich, flüchte ans andere Ende des Tisches. So weit weg wie möglich von diesem ...
"Mica?"
Ich blicke auf.
Meine Mutter ist neben mich getreten und tut mir dampfenden Rotkohl auf.

Normalerweise würde mir das Wasser im Mund zusammenlaufen, aber jetzt fühlt es sich so an, als ob ich meine Galle auskotzen könnte.
Schon bald vertiefe ich mich in ein oberflächliches Gespräch mit Marie, eine Vorsitzende des Kirchenrates.
Ich höre ihr eigentlich gar nicht zu und trinke ein Glas Wein nach dem anderen.
Doch da nimmt sie seinen Namen in den Mund und meine Sinne nehmen sie verstärkt wahr.

Wie sie da sitzt, mit krummem Rücken und vorgeschobener Unterlippe, die Augen auf die Tischplatte gerichtet.
Als ich nicht sofort antworte, fallen ihre blauen Augen wieder auf mich.
"Könnten Sie das noch einmal wiederholen?", frage ich leise, bemüht das Zittern in meiner Stimme zu überspielen.

"Ich sagte, wir werden ja bald schon zwei Hochzeiten feiern. Die von deinem Bruder Ben und die von Bradyn und Tiffany. Ich freue mich schon, die Kirche herzurichten. Laura hat eine ziemlich anspruchsvolle Idee gehabt, sie will Blumen im Gang und ..."
Ihre Stimme wird leiser und leider, bis ich sie nicht mehr höre und Marie wieder an den Rand meiner Wahrnehmung rückt.

Er wird sie also heiraten. Und so wie es sich anhört, ist das auch schon lange in Planung.
Ich sehe auf, zum anderen Ende des Tisches.
Bradyn nimmt einen großen Schluck Wein und nickt dem Mann gegenüber von ihm eifrig zu.
Seine grünen Augen schweben über die Gesichter, bis sie bei meinen ankommen.

Ich erstarre und vergesse zu atmen.
Meine Gabel fällt klirrend auf den Teller zurück.

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Song: Kissin' in the snow - Julia Michaels

What's poppin' ya filthy animals ♡
Enjoyed den letzten Feiertag!

Es gibt einfach zu viel gutes Essen. Hilfe. hahhaa

love,
Lisa xoxo

magical boy✨[boyxboy] ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt