"Das Lamm ist köstlich."
Ich schaue abwesend auf das Wasserglas vor mir. Die Kohlensäure steigt hypnotisierend in kleinen Perlen auf und ich vergesse das Blinzeln.
Ross schmatzt genüsslich neben mir und greift über den reich gedeckten Tisch.Wir befinden uns mal wieder auf einem formalen Abendessen unter Kollegen, dass nichts damit zu tun hat, eventuelle Freundschaften untereinander zu pflegen.
Es geht viel mehr darum, den neusten Gossip zu erfahren, sich wichtig zu tun und zu hören, wer einem in der nächsten Zeit Konkurrenz auf einen höheren Posten machen könnte."Du hast deine Penne ja noch gar nicht angerührt", sagt Milly in meine Richtung.
Sie ist aus der Buchhaltung und eigentlich ganz nett.
Ich schenke ihr ein falsches Lächeln.
"Doch habe ich und sie sind köstlich."Die Runde lacht und ich habe für eine Weile meine Ruhe.
Ross neben mir ist aus dem Marketing, genau wie Eric und Pascal. Ich kann die beiden überhaupt nicht ertragen. Sie sind schmierig, eingebildet und stumpf.
Aber wie es so ist; irgendwann muss man sich dem Gruppenzwang hingeben, um im Büro zu überleben.Ich nehme tatsächlich ein paar Penne mit meiner Gabel auf und kaufe auf ihnen herum. Sie sind wirklich köstlich. Aber ich habe keinen Appetit.
Schon lange nicht mehr.
Die Sache mit Bradyn liegt mir buchstäblich schwer im Magen.Ständig driften meine Gedanken ab; zu ihm, Schenectady, Tiffany.
Hat er gesagt, dass er sie mit mir betrogen hat?
Ich hasse die Ungewissheit. Noch mehr hasse ich es, dass es mich wirklich interessiert, was die Menschen, die ich zurückgelassen habe, über mich denken."Mica, du musst noch deinen dramatischen Abgang letzte Woche erklären."
Erics Stimme trieft vor Gehässigkeit und ich spanne meine Schultern an.
"Muss ich das?", frage ich zweifelnd. "Ich glaube nicht. Familiennotfall."
"Lebt deine Familie nicht an der Ostküste?", schaltet sich Milly ein."Ja", knurre ich.
Ausgerechnet sie muss mir in den Rücken fallen.
Plötzlich sind alle Augen am Tisch auf mich gerichtet. Sie riechen ein potenzielles Drama und es juckt ihnen schon in den Fingerspitzen, mich auszufragen.
Doch in diesem Moment beginnt mein Handy zu klingeln und errettet mich.Ich ziehe es geschickt aus meiner Jackentasche und versuche meine unberührte Miene aufrecht zu erhalten.
"Da muss ich rangehen. Entschuldigt mich."
Bei diesen Worten bin ich schon aufgestanden und laufe Richtung Ausgang.
Mein Handy klingelt und vibriert weiterhin in meiner Hand. Erst als ich draußen auf dem dunklen Bürgersteig stehe, nehme ich den Anruf entgegen."Ja?", frage ich mit belegter Stimme.
Ich laufe ein paar Schritte und bleibe dann verkrampft stehen.
Ich weiß nicht, was ich jetzt zu erwarten habe. Anklage oder Besorgnis?
"Hallo Mica, ich bin's Mom.""Ich habe dich doch -"
Ich unterbreche mich selbst und fahre durch meine Haare. Die unendliche Geschichte: Sie wird nie verstehen, dass ich sie eingespeichert habe.
"Hallo", sage ich dann leise.
"Hallo."Wir schweigen uns eine Weile an.
"Ich dachte, abends erwische ich dich mal und wir könnten in Ruhe reden."
Ich lege den Kopf in den Nacken und versuche durch das Licht der Straßenlampe den Nachthimmel zu erkennen.
"Eigentlich bin ich gerade mit Kollegen essen - aber du störst nicht! Ich ... bin ganz froh mal vom Tisch aufzustehen."Belangloses Zeug, darüber kann ich gut mit ihr reden. Auf diesem Gebiet kenne ich mich bestens aus und es macht mir keine Angst.
Aber, wenn sie jetzt gleich die Hochzeit anspricht ...
Mein Herz beginnt zu klopfen, meine Hände zu schwitzen."Ich glaube, du weißt, warum ich anrufe, oder?"
Ihre Stimme ist normal. Sie klingt nicht böse, sauer oder aufgebracht.
Ich schweige. Was soll ich auch sagen? Ich weiß ja nicht, wie viel sie weiß.
Verdammt, ich weiß nicht, was Bradyn ihnen erzählt hat!"Es geht um Bradyns und Tiffanys Hochzeit", dröhnt ihre Stimme an meinem Ohr.
Erschöpft sacke ich an eine Hauswand.
"Dachte ich mir schon."Jetzt schweigt sie. Aber es ist kein strenges Schweigen. Sie scheint lediglich darauf zu warten, dass ich weiterspreche.
"Wie viel weißt du?", frage ich.
"Er hat nichts gesagt. Aber ... ich kann mir meinen Teil denken."Ich nicke, obwohl sie mich nicht sehen kann.
Die Abendluft ist angenehm frisch und kühlt meine erhitzen Wangen.
Ich spiele an der silbernen Kette, die eng an meinem Hals anliegt und zu meinem beigen Oversized-Hemd passt, während ich meine Gedanken ordne."Und ... was denkst du?"
Meine Mutter seufzt tief. Es ist eines der wenigen Gespräche, bei denen sie nicht irgendeine andere Tätigkeit im Hintergrund ausübt.
"Ich denke, dass da in New York etwas zwischen euch passiert ist und das du der Freund bis, zu dem er vor ein paar Wochen gefahren ist."Ich kaue auf meiner Lippe herum und fahre erneut durch die Wellen in meiner Stirn.
Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Ich bin viel zu verlegen und fühle mich schuldig. Jetzt, wo ich geoutet bin, stelle ich den perfekten Sündenbock für die Situation dar.
Der Verführer."Mica ... Ich mache dir keine Vorwürfe, wenn dem so wäre."
Aus meinen Lungen entweicht angestaute Luft.
"Ich hätte mir nur gewünscht, dass du mit mir darüber redest", fährt sie fort, "und das ihr dieses Spiel nicht mit Tiffany gespielt hättet."Jetzt werde ich sauer. Eine tiefe Falte bildet sich auf meiner Stirn und ich stoße mich schwungvoll von der Wand ab.
"Als ich zu Bradyn ins Auto gestiegen bin, hatte ich keine Ahnung, dass Tiffany überhaupt existiert. Er hat mir nie etwas gesagt. Ich habe es bei deinem Adventsessen erfahren", gebe ich zu.Ich wünschte, ich könnte ihr jetzt gegenüberstehen und ihr ins Gesicht blicken.
"Verstehst du? Und als Bradyn plötzlich unangekündigt vor meiner Tür stand, versprach er mir die Hochzeit platzen zu lassen. Er hat mich nach knapp eineinhalb Wochen glauben lassen, er hätte Tiffany alles gestanden."Ich mache eine kleine Pause.
Es tut erstaunlich gut, dass alles mal laut auszusprechen, auch wenn ich nicht sicher weiß, ob ich mir gerade eine Feindin mache.
"Ben hat mich angerufen. Und ich habe erfahren, dass die Hochzeit nicht abgesagt ist. Da habe ich ihn rausgeschmissen."Meine Lederboots glänzen in der Schwärze der Nacht und ich schabe mit ihnen über den Boden, trete auf einem bunten Flyer herum.
"Ach Mica ... Was soll ich dazu sagen?"
"Tu einfach mal so, als ob es sich um ein anderes Mädchen handeln würde. Was würdest du dann sagen?"Sofort beiße ich mir auf die Zunge und warte gespannt auf ihre Antwort.
"Da würde ich keinen Unterschied machen. Ich hatte eigentlich gehofft, dass du das weißt."
Resigniert presse ich die Lippen zusammen und nickt mir selbst in Bestätigung zu.
Ich habe mit so einer Antwort gerechnet.Verletzt reibe ich über meine stechende Brust.
"Wenn du wieder nach Schenectady kommst, könnten wir vielleicht mal in Ruhe, von Angesicht zu Angesicht, darüber reden."
"Ich dachte, du kommst erstmal nach Kalifornien", sage ich. Den enttäuschten Ton kann ich beim besten Willen nicht verbergen."Das schaffe ich nun wirklich nicht. Bens Hochzeit findet ja immerhin noch statt."
"Verstehe."
Ich drehe mich um und laufe zurück zum Restaurant. Das gelbe Licht aus den Fenstern taucht die Steinplatten des Weges in Wärme und Geborgenheit.
Gefühle, die ich eigentlich schon lange nicht mehr empfunden habe.Denn, als ich sie in Bradyns Armen empfand, waren sie nicht echt. Sie basierten auf einer Lüge.
"Mein Kleiner ... bitte sei jetzt nicht beleidigt. Und mach dir keine Sorgen, Bradyn hat die Sache nicht an die große Glocke gehängt."
"Es ist eine kleine Stadt, Mom. Ich muss jetzt wieder rein."Am anderen Ende bleibt es still. Dann atmet sie hörbar aus und sagt: "Gut."
Ich lege auf. Doch anstatt gleich wieder reinzugehen und den Lärmpegel um mich zu empfangen, bleibe ich noch eine Weile in der Nacht stehen und umklammere mein Telefon.___________________________________
Song: Hey Ma - Bon IverSonntag - Funtag - jedenfalls bei so schönem Wetter!
Ich hoffe, bei euch scheint auch die Sonne :)
Unnötige Information: Gestern kam ein H&M Paket mit Plateauschuhen an and I'm in love! Die Dinger sind wunderschön hrhr - aber mit dem Tragen muss ich noch warten, die kriege ich nämlich erst zum Geburtstag :)
k, sending u love
Lisa xoxo
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magical boy✨[boyxboy] ✔
RomanceMica muss über die Weihnachtstage in seine beschauliche Heimatstadt Schenectady zurückkehren. Vor drei Jahren war der das letzte Mal hier und seitdem hat sich nichts verändert. Nur er. Mica ist erwachsen geworden und stehe zu sich selbst, zu den Din...