-100-

1.3K 118 85
                                    

P.O.V. Bradyn

Micas Kopf liegt auf meiner Schulter. Seit ungefähr einer Stunde schläft er zum ersten Mal seit der Hochzeit seines Bruders.
Ich wünsche mir, es wäre anders gelaufen. Ich wünsche es mir wirklich.
Nicht nur für ihn und wegen der ernüchternden Gefühle, die ihn jetzt bestimmt zerfressen.

Auch meinetwegen.
In der letzten Reihe einer Hochzeit zu sitzen, die genauso gut auch meine eigene hätte sein können, ist die schlimmste Folter, die man über sich ergehen lassen kann.
Vor allen Dingen, wenn man weiß, dass man mit seinen Entscheidungen Menschen verletzt hat, die einen solchen Schmerz nicht verdient haben.

Die Blicke der Gäste haben mir einen Vorgeschmack von der gesellschaftlichen Ächtung gegeben, der Tiffany jetzt tagtäglich ausgeliefert ist.
Ich meine ... wir waren perfekt! Und dann stellt sich heraus, dass sie einem Lügner aufgesessen ist, einer Schwuchtel, die sie für den Nächstbesten hat fallen lassen.

Nur das Mica nicht der Nächstbeste für mich ist.
Er ist der Beste. Der Einzige.
Das ist er schon immer gewesen. Ich bin nur zu stur, blind und verbissen gewesen, um das zu erkennen.
Doch für die Bewohner von Schenectady sind wir der Cast einer der besten Soap-Operas im ganzen Bundesstaat New York.

Und ich weiß, dass sie Tiffany nicht in Frieden lassen werden.
Durch mich hat sie wahrscheinlich nicht nur ihre sichere, geplante Zukunft verloren, sondern auch ihr Zuhause.
Und meine Mutter? Ich habe sie blamiert.
Jeder wird sie hinter vorgehaltener Hand eine schlechte Mutter nennen.
Dabei ist sie doch das Gegenteil einer schlechten Mutter.

Ich lehne meinen Kopf gegen Micas Locken. Mit aller Kraft halte ich die Tränen zurück.
Aber Mica ist gerade nicht bei mir, er schläft.
Ich bin hier alleine mit meinen Gedanken, die lauter und lauter werden. Die lauter als alles andere sind.
Selbst das Motorengeräusch des Flugzeuges rückt in den unmittelbaren Hintergrund.

Mica erinnert mich an Liz.
Gerade jetzt, in diesem Moment, fällt Licht über meine Schulter auf sein Gesicht.
Seine Nasenspitze kräuselt sich. Eine unbemerkte Geste, die er sich von seiner Mutter abgeschaut hat.
Liz.

Sie hat kein Wort mit mir geredet. Sie hat mich fast nicht beachtet.
Ich war kaum gegenwärtig für sie. Ist das ihre Strafe an mich, weil ich mit Tiffanys Herz gespielt habe?
Ich habe es verdient. Das weiß ich.
Dennoch tut es weh. Sie war wie meine zweite Mutter, so ein verständnisvoller, liebender Mensch.

Und alles wegen Tiffany.
Ich habe ihr Leben zerstört. Oder nicht?
Stand mein Leben gegen ihres?
Wie hätte ich mich je richtig entscheiden sollen? Gibt es überhaupt eine richtige Antwort?
Ich ziehe mein Kinn an und blicke auf Mica herunter.

Es ist schön, auch mal auf ihn herunterzublicken.
Auch wenn uns nur wenige Zentimeter trennen, genieße ich diese kleinen Augenblicke, in denen ich ihm Größentechnisch überlegen bin.
Ich schmunzle.

Ist das nicht meine Antwort?
Ja. Ich habe alles richtig gemacht.
Vielleicht nicht gerade mit einer Glanzleistung, aber ich habe den Test bestanden. Das Ruder herumgerissen. Mein Leben gerettet.

Doch schon nach zwei Atemzügen sind die Zweifel und Schuldgefühle zurück.
Ich frage mich, wo im Leben ich etwas hätte anders machen müssen, um nicht an dieser zerstörerischen Weggabelung angelangt zu sein.
Ich kann keine Antwort finden. Auch nicht als sich das Flugzeug bereits über kalifornischem Boden befindet.

Laura hat ja keine Ahnung gehabt, als sie mir vorgeworfen hat, nicht zu wissen, was ich angerichtet habe.
Das Wissen quält mich. Und es wird nicht leicht sein, damit zu leben. Sie hatte nicht das Recht, mich so anzugehen, auf solch herzlose Weise Salz in die Wunde zu streuen.
Konnte sie nicht sehen, wie schwer es mir gefallen ist, auf dieser Hochzeit auch nur aufrecht zu stehen?

magical boy✨[boyxboy] ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt