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Ich überkreuze meine Beine und blicke den alten Mann an, der mir gegenüber in den Polstern eines Sessels versunken ist.
"Was meinen Sie?"
"Ich meine damit, dass ich schon immer gesehen habe, dass du etwas Besonderes bist. Du warst anders als die Jungs, mit denen du da draußen vor meinem Haus gekauert hast."

Er faltet die Hände und blickt mich aus seinen fast schwarzen Augen nachdenklich an.
Für einen Moment bleibt mir der Atem weg. Dann reiße ich mich zusammen und stehe auf.
"Tut mir leid, ich glaube, ich hätte nicht reinkommen sollten. Ich werde ..."
Bei diesen Worten bin ich schon an der Zimmertür angekommen.

Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich mich im Haus eines völlig Fremden befinde, der wirres Zeug redet und wahrscheinlich heute Morgen vergessen hat, seine Pillen zu nehmen.
"Ich kannte einmal einen jungen Mann. Der war dir sehr ähnlich. Dieser junge Mann war ich. Und ich wollte einfach nur ich sein, aber ich konnten nicht. Und ich glaube, ich sehe die selbe Verwirrung in dir."

Ich versteinere im Türrahmen. In Zeitlupe drehe ich mich um.
Jo hat sich nicht umgedreht. Doch die zufriedene Stille zeigt mir, dass er weiß, dass er meine ungeteilte Aufmerksamkeit hat.
"Setz dich."

Ohne zu wissen, warum, folge ich seinen Worten und nehme wieder auf dem grünen Sofa Platz.
Die Situation wird von Sekunde zu Sekunde bizarrer, doch irgendetwas an Jo hat meine Neugier geweckt. Sollten wir uns tatsächlich ähnlich sein?

Ich betrachte Jo näher in seinen Cordhosen und dem karierten Hemd.
Er hat schütteres graues Haar und eine Halbglatze. Seine Haut ist von Wind, Wetter und Alter gezeichnet, dennoch hat seine Mundpartie etwas Jugendliches.

"Schmeckt der Tee?", fragt er mit einem beschwingten Ton.
"J - Ja. Danke", druckse ich herum.
"Du denkst dir sicherlich, ich sei völlig durchgeknallt", lacht Jo und hustet kurz darauf.
Ich schüttle aus reiner Höflichkeit den Kopf.

Jo hebt den Finger.
"Ich sagte dir, wir sind uns ähnlich. Ich sehe, wenn du lügst!"
Ich werde kleiner auf meinem Sofa und sehe den alten Mann abwartend an.
"Genau wie du, wurde ich in Schenectady geboren. Damals sah sie Stadt zwar noch ganz anderes aus, aber der Lauf der Dinge war der gleiche."

Er lehnt sich zurück. Seine Augen wandern über die Wand hinter mir.
Schon beim Hereinkommen habe ich die vielen Fotografien gesehen, doch jetzt drehe ich mich um und nehme mir Zeit, sie genauer zu betrachten.
Ein Junge mit hellen Haaren ist auf fast allen Bildern zusehen.

Er hält ein kleines Mädchen an der Hand. Auf einem andern steht er mitten auf einem fast leeren Time Square.
Ich erkenne alte Familienfotos und eines auf dem der Junge seinen Arm um die Schultern eines anderen Jungen gelegt hat. Beide grinsen breit in die Kamera. Sie müssen ungefähr fünfzehn Jahre alt gewesen sein.

Ich erkenne den anderen Jungen auf noch ein paar weiteren Bildern.
Auf einem stehen die beiden Arm in Arm vor einem großen Fels. Neben diesem Bild hängt das verblichene Hochzeitsfoto von Jo.

Er fängt erst wieder an zu sprechen, als ich mich zu ihm zurückgedreht habe.
"Als ich dich als kleinen Jungen da draußen in meinem Vorgarten gesehen habe, hast du mich so sehr an mich damals erinnert ... Ich bin immer nur bei den anderen mitgelaufen. Wenn sie gesagt haben: 'Wir erschlagen jetzt Fische unten am Fluss', dann haben wir das getan - auch wenn ich die Nacht darauf weinend wach lag und nicht schlafen konnte, vor schlechtem Gewissen."

Ich erinnere mich wieder an die Mutproben. Kaum jemand von uns Kindern traute sich, beim alten Jo zu klopfen. Wir haben manchmal Stunden vor seinem Haus herumgelungert und uns gegenseitig als elende Feiglinge beschimpft, weil die Angst vor dem alten Mann zu groß war, um auf die Veranda zu steigen und an seine Tür zu klopfen.

Jo rutscht auf dem Sitzkissen hin und her und schaut gedankenverloren aus dem Fenster.
"Ich habe mitgemacht, weil es mein Überleben sicherte. Kinder können grausam sein."
Ich lache verbittert auf.
"Ja, damit haben Sie wohl recht."

"Als ich älter wurde, eckte ich immer mehr mit meinen Eltern an. Ich weiß nicht, wie das heute ist, aber mein Vater hätte mir Beine gemacht, wenn ich auch nur Ansatzweise so dagesessen hätte, wie du jetzt."
Ich blicke an mir herunter und schlucke den Kloß in meinem Hals herunter.
Ich habe wieder mein rechtes Bein übergeschlagen und halte es mit meinen Händen fest. Ein beklemmendes Gefühl hat sich in meiner Brust breitgemacht.

Ich lasse mein Bein los und stelle steif beide Füße auf den Boden.
Jo schmunzelt.
"Nein, mein Junge. Bei mir darfst du sitzen, wie du willst."
Mit einer Handbewegung fordert er mich auf, meine vorherige Position einzunehmen.

In diesem Moment passiert etwas mit mir - zwischen uns.
Ich entspanne meine Schultern und sacke leicht in mich zusammen. Ich greife nur noch zur Teetasse, wenn ich wirklich Durst verspüre und nicht, wenn ich mein Gesicht verstecken oder Nervosität überspielen will.

Und Jo erzählt mir von seinem Leben.
Wie es war, im Schenectady der fünfziger Jahre aufzuwachsen und jeden Morgen mit einer silbernen Kanne frische Milch vom Laden um die Ecke zu holen.
Wie der Sommer geschmeckt hat, als er mit seinen Freunden in den Feldern lag und sich die Sonne auf den Rücken hat brennen lassen.
Und wie es ihn geschmerzt hat, als sein Vater ihn schlug, weil er lieber mit den Puppen seiner kleinen Schwester spielte, anstatt mit seinem Holzgewehr.

Ich schlucke Tränen herunter, als ich mir plötzlich den kleinen Jo vorstellen muss, der weinend in einer Ecke kauerte.
Jo war nie gut in der Schule, nur in Kunst hatte er immer eine zwei. Er sammelte gerne Steine, Muscheln, Gräser, Blumen, alles, was es in die Finger bekam.
Und irgendwann auf halbem Wege begann er sich zu verstellen, eine Rolle zu spielen, die seinen Eltern besser gefiel und die ihm in der Gesellschaft weniger Probleme bereitete.

Ich nehme den letzten Schluck meines kalten Tees und sehe ihn abwartend an.
"Ich habe irgendwann begriffen, dass es so einfacherer war", sagt er mit mittlerweile heiseren Stimme.
"Aber ich glaube, damit hast du deine eigenen Erfahrungen gemacht."
Es ist keine Frage, sondern eine Feststellung. Und es trifft mich, dass er von Anfang an Recht hatte.

"So! Ich glaube, für heute sollten wir Schluss machen. Ich bin ganz sentimental geworden."
Meine Augen weiten sich und ich will protestieren. Gerade jetzt versprach es eine Wendung zu nehmen. Ein Licht in der Dunkelheit hat sich in Jos Erzählung angekündigt!

Noch bevor ich eines meiner Worte loswerden kann, hebt er die Hände und sagt beschwichtigend: "Aber du weißt ja, wo du mich finden kannst, solltest du je wissen wollen, wie die Geschichte weitergeht."

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Song: Softly - Winter Aid (This Song is so FEELS!!!)

Was meint ihr? Wird Mica wissen wollten, wie die Geschichte weitergeht?

Danke für über 500 reads! wupwuupp let's go! hrhr

Ich werde heute Abend noch schnell bei einer Freundin rumfahren und ihr ein kleines Geburtstagsgeschenk vorbeibringen! Meine erste soziale-real-life-Interaktion seit langem xD

Okay, my beauties! I see ya tomorrow (Wie einfach morgen schon der 10. Dezember ist und in 12 Tagen Weihnachten!)

All my Love, Lisa

magical boy✨[boyxboy] ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt