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"Seine Gefühle zu verstecken ist eine Sache. Aber ich habe sie nicht nur versteckt, ich habe sie vorgetäuscht. Ich bin sicher, du hast das Bild von mir und meiner Frau gesehen."

Mein Griff um die zierliche Teetasse schießt sich immer weiter. Ich bringe es nicht über mich, Jo anzusehen. Ich nicke nur stumm, mit den Augen am Boden.
"Ich habe sie unser ganzes gemeinsames Leben belogen. Weil ich zu feige war."
Jo räuspert sich.

Warum genau erzählt er mir das alles?
Ich meine, ich kenne diesen alten Mann doch eigentlich gar nicht und die Tatsache, dass wir beide schwul sind, macht uns nicht gleich zu Blutsbrüdern.
Ich werfe dem Alten einen Blick zu.

"Ich kann in deinen Augen lesen, was du von mir denkst. Und das habe ich auch verdient. Ich will nur versuchen, dir klar zu machen, wie schwer das für Bradyn ist. Liebe ist etwas Kompliziertes."
Ich wünschte, ich könnte ihm widersprechen. Aber er hat recht.

"Meine Frau Margaret wurde mir damals praktisch von meinem Vater vorgeschlagen und ich konnte nicht Nein sagen. Ich habe zuvor nie ein Mädchen mit nachhause gebracht."
Jo lacht auf und schaut mich einen Moment an.
Findet er das wirklich lustig?

"Wir waren noch ziemlich jung, als wir uns das Ja-Wort geben haben. Ich werde nie vergessen, wie Bill am Tag zuvor auftauchte und vor meiner Tür stand. Er hatte plötzlich längere Haare und einen Kajalstrich unter den Augen. Er stand einfach vor mir und hat mich stumm darum gebeten, es nicht zu tun. Und ich Sturkopf habe nicht auf ihn gehört."

"Es tut mir leid, wenn ich jetzt vielleicht ein bisschen direkt bin ... aber was haben Sie sich dabei gedacht?"
Meine Stimme klingt fremd, jeder einzelne Muskel ist angespannt.

"Irgendwann hat sie es gewusst - ich meine, wir lebten zusammen und zogen zwei Kinder groß. Natürlich merkt man, wenn der Partner nicht der ist, der er vorgibt zu sein."
Er kratzt sich an der Schläfe und schaut an die Wand hinter mir. Ohne hinzusehen, weiß ich, dass er ihr Hochzeitsfoto anpeilt.

"Eines morgens stand ich in der Küche, sie kam die Treppe runter und sagte mir, dass sie Rollbraten in den Kühlschrank gestellt hatte. Sie würde spät wieder kommen. Ich weiß noch, wie sie sagte, sie hätte eine Konferenz und würde danach noch mit einigen Kollegen essen gehen ... Ich habe sie nicht angesehen, als sie das zu mir sagte. Als ich aufschaute, war das Treppenhaus bereits leer und die Tür fiel zu. Ich habe sie nie wieder gesehen. "

Ich muss tief durchatmen. Auch wenn ich wusste, dass Jo alleine lebt, habe ich nicht damit gerechnet, dass ihn seine Frau so verlassen hat. Ohne ein 'Auf wiedersehen'. 

"Auch wenn du es nicht immer auf den ersten Blick siehst, Mica. Hier draußen gibt es eine Menge Menschen wie dich und Bradyn. Wir alle haben dieselbe Geschichte, nur anders erzählt. Du bist nicht allein mit deinen Sorgen, Zweifeln und Ängsten. Du warst nie allein und du wirst es auch niemals sein."

Ich schlucke hart. Mein Mund ist zu trocken, um einen Ton hervorzubringen.
"Und es gibt abertausende Bradyns, die anderen das Herz brechen und im Grunde nur ihr eigenes für immer schädigen. Ich kann nur hoffen, dass du anderes als Bill, dazu in der Lage bist Bradyn die Augen zu öffnen."

"Was, wenn ich das gar nicht mehr will? Was, wenn ich genug Energie in etwas verschwendet habe, dass keine Zukunft hat?"
Jo nickt und fährt sich über den Bart.
Seine Mundpartie wirkt wieder jünger, seine Anspannung ist von ihm abgefallen.
Ich drehe mich um und betrachte das Schwarzweißfoto über mir.

Eine circa 23-jährige Margaret blickt mit einem aufgesetzten Lächeln in die Kamera. Neben ihr Jo, der seinen Arm stolz um sie gelegt hat - fast wie ein Jäger, der seine Beute präsentiert.
Die beiden waren zum Scheitern verurteilt. Egal, ob Jo nicht auf das weibliche Geschlecht steht. Zwischen ihnen war keine Liebe zu sehen. Sie wirkten kalt und distanziert, steif und halbherzig.

Ich will nicht zum Foto von Bill und Jo herüberschielen, doch ich tue es trotzdem.
Sie pressen ihre Körper aneinander. Im Hintergrund das rauschende Meer, keine dreckige Steinmauer.
In ihren Augen steht etwas geschrieben. Etwas Echtes.
Genau das habe ich auch in Bradyns Augen vermutet, als ich gestern neben ihm aufgewacht bin.

"Was auch immer du tust und tun willst, versprich mir eins. Erzähle meine Geschichte bitte kein zweites Mal. Erzähl deine eigene, eine mit Happy End. Lerne einfach aus den Fehlern eines alten Mannes und kämpfe für deinen Bradyn. Wenn du ihn liebst."

Er lehnt sich vor und streicht sich erneut gedankenverloren über den Bart.
"Aber etwas in mir sagt mir, dass du ihn liebst. Und zwar sehr."
Empört lache ich auf.
"Ich glaube, ich habe gerade klar genug dargelegt, dass ich ihn hasse, für das, was er mir zum wiederholten Mal angetan hat."

"Aber nur weil man jemanden hasst, heißt das nicht, dass man ihn nicht auch lieben kann."
Baff schaue ich den alten Jo an.
Vielleicht hat er recht, ein kleines bisschen. Aber er hat mit seiner Geschichte kein Anrecht darauf, mir so etwas ins Gesicht zu sagen.

"Ich glaube, ich sollte gehen", sage ich kurz angebunden.
Dann überfällt mich das schlechte Gewissen und ich füge hinzu: "Ich werde ihm nicht hinterherlaufen, aber vielleicht werde ich ihm irgendwann die Chance geben, sich zu erklären und ihm versuchen zu erzählen, was aus einem Menschen werden kann, wenn ..."

Schmerz huscht über das faltige Gesicht meines Gegenübers.
"Versuch das."

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Song: Dancing On My Own - Calum Scott

Na meine Weihnachtselfen? Wie sieht's bei euch aus?
Ich hoffe, ihr habt einen schönen ersten Feiertag gehabt.

Ich für meinen Teil werde jetzt weiter Schlagzeug spielen gehen.
Jup ... mein Wunsch wurde erfühlt ;)

All my Love, Lisa xoxo

P.S. Es werden weiterhin tägliche Updates kommen ;)

magical boy✨[boyxboy] ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt