● Kapitel 6

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14. Dezember

»Erschreck dich nicht«, sage ich und packe währenddessen Erins Schultern.

Erschrocken fährt sie in sich zusammen und umklammert ihr Handy in der Hand, damit sie es nicht in die Themse fallen lässt.

»Louis man!«, zischt sie dann. »Willst du mich umbringen?«

Sie versucht mich böse anzugucken, doch dann fange ich an zu lachen, weshalb sie nicht länger versucht mich böse anzuschauen.

Als wir uns nach kurzer Zeit wieder beruhigt haben, räuspere ich mich: »Was hast du gelesen?«

»Ich war dabei mein Wissen über die deutsche Geschichte aufzufrischen«, erzählt sie mir und lächelt. »Über den Nationalsozialismus und Hitler, über den ganzen Mist, bis hin zu der Judenverfolgung und -vernichtung.«

»Das mit den Nazis?«, frage ich nach und sie nickt.

»Genau«, sagt sie. »Mein Vater hat mir gestern ein Buch gegeben, was mir meine Cousine aus Deutschland zugeschickt hat. Es heißt 'Die vergessene Generation' und hat auch etwas mit der Nazizeit zu tun. Es geht um die damaligen Kinder einiger Soldaten. Viele haben angeblich ein Trauma und empfinden diese Unmenschlichkeit Hitlers als normal, weil sie es gewohnt waren. Echt krank, wenn du mich fragst. Aber... diese Judenverfolgung, oh Gott. Ich hab' solch ein Mitleid mit den Menschen, die nur wegen einer anderen Religion sterben mussten. Mal abgesehen stammte Adolf Hitler nicht aus Deutschland, sondern aus Österreich. Er ist so ein großer Volksidiot, das glaubst du nicht. So viele Juden wurden einfach erschossen oder sie starben an was anderem. Sie arbeiteten sich zu Tode, starben an Krankheiten oder wurden einfach eiskalt abgeschossen. So viele wurden in KZ-Lagern vergast... ich bin so froh Jahre später geboren worden zu sein.«

»Könntest du mir das nochmal mit KZ-Lagern erklären?«, frage ich nach und sie nickt.

»KZ-Lager sind die Konzentrationslager, wo die Juden hingebracht wurden. Sie mussten dort arbeiten, bekamen Kleidung, die wie gestreifte Pyjamas aussahen, und Nummern. Ihre Namen waren nicht mehr wichtig. Sie bekamen seht wenig zu essen und wenn den Nazis etwas nicht passte, dann wurden sie eiskalt erschossen. Wenn ein großer Nachschub an Juden kam, so wurde den Juden erzählt, dass sie sich eine Dusche nehmen durften. Sie mussten sich komplett ausziehen und dann in die Kabinen gehen, statt Wasser kam Gas aus den Duschköpfen«, erzählt mir Erin und eine Gänsehaut legt sich auf meinen Oberarmen. »Danach wurden die Leichen verbrannt. Einige KZ-Lager haben Juden, die allesamt in einem Haus waren, irgendwo mit hin in genommen, wo kein anderer Mensch war. Ich weiß nicht, ob sie den Graben zuerst selbst graben mussten oder ob er schon da war, aber sie sollten sich komplett ausziehen und sich eine Reihe ins Grab legen. Dann wurden sie alle nach der Reihe erschossen. Der nächste Schwung kam, mussten sich ebenso ausziehen und mussten sich auf die soeben erschossenen Juden legen, um sich ebenfalls erschießen zu lassen. Das ging natürlich immer so weiter, bis das ganze Haus ausgelöscht war. Dann wurde Erde über das Grab geschüttet und niemand wusste, was dort geschehen war.«

»Und was hast du da gelesen?«, frage ich und deute auf ihr Handy, welches sie nicht mehr umklammert. Sie scrollt nach oben und zeigt mir den Text. »Lies vor.«

Sie grinst kurz, ehe sie sich räuspert und dann den Text vorliest: »Im deutschen Sprachraum steht der Begriff Konzentrationslager seit der Zeit des Nationalsozialismus, 1933 bis 1945, für die Arbeits- und Vernichtungslager des NS-Regimes. Zunächst wurde von nationalsozialistischen Funktionären die Abkürzung KL für Konzentrationslager verwendet. Nach Eugen Kogon gaben SS-Wachmannschaften dann der Abkürzung KZ wegen ihres härteren Klanges den Vorzug. In der NS-Zeit wurden umgangssprachlich mit der Abkürzung KZ oder dem Wort Lager wahrscheinlich in vielen Fällen zunächst die Haftorte oder das nächstliegende KZ und die Haft auf unbestimmte Zeit unter unmenschlichen Bedingungen verstanden.«

»Und weiter?«, frage ich und sie verdreht grinsend die Augen, während sie mich nochmal anstupst. »Was denn? Es hört sich viel interessanter an, wenn du es erzählst.»

Erin heftet ihre blauen Augen wieder auf ihr Handy: »Die Konzentrationslager wurden im Deutschen Reich und in den besetzten Gebieten von Organisationen der NSDAP errichtet. Es waren schließlich rund 1000 Konzentrations- und Nebenlager sowie sieben Vernichtungslager. Sie dienten der Ermordung von Millionen Menschen, der Beseitigung politischer Gegner, der Ausbeutung durch Zwangsarbeit, medizinischen Menschenversuchen und der Internierung von Kriegsgefangenen. Das Lagersystem stellte ein wesentliches Element der nationalsozialistischen Unrechtsherrschaft dar. Weite Zweige der deutschen Industrie profitierten direkt oder indirekt von dem Lagersystem.«

»Du hast Recht, Hitler ist echt ein Volksidiot«, stimme ich ihr zu und sie grinst schief. Dann tippt sie etwas bei Google ein und öffnet daraufhin die Wikipediaseite.

»Adolf Hitler«, sagt Erin, »geboren am 20. April 1889 in Braunau am Inn in Oberösterreich, gestorben am 30. April 1945 in Berlin, war von 1933 bis 1945 Diktator des Deutschen Reiches. Ab Juli 1921 Vorsitzender der NSDAP, versuchte er im November 1923 mit einem Putsch von Bayern aus die Weimarer Republik zu stürzen. Mit seiner Schrift Mein Kampf, erschienen 1925 und 1926, prägte er die antisemitische und rassistische Ideologie des Nationalsozialismus.«

»Das ist echt heftig, was damals alles in Deutschland geschehen war«, murmle ich und schaue gedankenverloren in die Themse. »Ohne Worte.«

»Für mich war's beim Konfirmandenunterricht schlimm«, sagt Erin. »Da wohnte ich noch zum Teil in Deutschland. Wir hatten Unterricht immer einmal im Monat an einem Samstag, von 10 Uhr morgens bis 16 Uhr am nachmittag. In der einen Stunde sahen wir uns den Film Der Junge im gestreiften Pyjama an und ich wusste nicht, was in dem Film geschehen würde. Am Ende des Films hätte ich am liebsten los geheult. Dieser Film hatte halt was mit den Nationalsozialismus und Judenvernichtung zu tun. Nach diesem Film waren wir in ein KZ-Lager gefahren, also eine Gedenkstätte. Ich lief in dem Haus um und schaute mir die Gegenstände an, bis ich den gestreiften Pyjama mit einer Nummer fand. Mir ist das Herz mehr als nur in die Hose gerutscht. Hinter dem Haus war ein Friedhof und dieser Friedhof war nur an den umgekommenen Juden gewidmet. Sie mussten mit ihrem Leben für nichts bezahlen.«

 

»Das ist schrecklich, Erin«, sage ich und lege automatisch meinen Arm um ihre Schulter, um sie an mich zu drücken. »Wir können glücklich darüber sein, dass es jetzt nicht mehr so ist.«

»Vergiss die Neonazis nicht«, sagt Erin schnell und so nebenbei gesagt.

»Erin«, lache ich leicht. »Du hast den Moment zerstört.«

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