»Wie geht’s dir?«, fragt Lilien leise Leonora, welche sich im obersten Stock in dieser Bibliothek befindet.
»Diese Frage kannst du mir nicht zu dieser Situation stellen«, beantwortet Leo Liliens Frage. »Ich habe nachgedacht.«
»Über was?«, fragt Lilien vorsichtig nach.
Leo schaut sie an: »Über die Monate hatte mir Erin die Kapitel ihres Buches Different Faces. Sie wollte da noch so einen Untertitel hinzufügen. Das Mädchen mit vielen verschiedenen Gesichtern hinter einer Fassade, wollte sie darunter schreiben lassen. Jedenfalls wollte sie es veröffentlichen und wenn sie es nicht schafft, dann... erfülle ich ihren Wunsch.«
»Du willst ihr Buch veröffentlichen?«, fragt Lilien nach. Leonora nickt. »Willst du etwas an diesem Buch noch etwas verändern?«
»Nein, die Kapitel sind wunderschön geschrieben und beschreiben Erin, wie wir sie nie gesehen hatten...«, murmelt sie leise. »Erin hatte sich uns nie ganz geöffnet, sie tat immer nur so, als wäre sie unbeschwert glücklich, doch ihren einzigen Wunsch hätten wir ihr nie erfüllen können – und zwar, dass wir ihr die Mutter wiedergeben können. Glaub mir, ich habe mir nichts sehnlicher als das Gleiche gewünscht, aber das Leben wollte anders verlaufen als wir es wollten. Das Einzige, was ich machen werde, ist eine Nachricht ganz hinten im Buche zu hinterlassen. Eine Nachricht von mir. Sowie in dem Tagebuch von Anne Frank, da stand ja auch so etwas, was mit Anne passierte.«
»Warum kennt ihr euch so gut über Hitler und Judenvernichtung aus?«, fragt Lilien leicht verständnislos.
»Ich schätze mal, dass besonders Erin und ich das Wissen über die deutsche Geschichte wichtig fanden«, meint Leonora und lächelt leicht. »Erin war in dem Thema wie ein wandelndes Geschichtsbuch.«
Lilien lacht leise. »Und sie war wie ein wandelndes Rechnungswesensbuch.«
»Aber das bin ich auch«, sagt Leo leise und setzt sich an den alten Computer, der schon eine ganze Weile hier oben schon verweilt, doch ab und zu von irgendwem genutzt wird. »Bitte lass mich alleine, Lilien. Ich brauche Zeit für mich.«
Leonora hört die leisen Schritte von ihr, bis die Tür ins Schloss fällt und sie komplett alleine ist.
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Nachwort
Am 6. August 2015 erlitt Erin Diana Marin, meine kleine Schwester, einen schweren Autounfall an der Tower Bridge. Wenige Wochen zuvor hatte sie dieses Buch beendet und wollte es in London veröffentlichen, doch das Taxi, mit dem sie fuhr, kam ins Schleudern und überschlug sich dreimal.
Seit diesem Tage liegt Erin Diana Marin im Koma und ist bisher nicht aufgewacht. Wir hoffen, dass sie es schafft, doch es ist alles ungewiss.Falls sie es nicht überleben sollte, nehme ich mir die Erlaubnis, das Buch zu veröffentlichen. Sie hätte es gewollt.
Bitte komm zurück, Erin. Wir brauchen dich.
In Liebe,
Leonora Marin▬
Leonora speichert das Nachwort ab, da sie nicht wusste, ob das Buch wirklich vermarktet werden kann, aber sie wollte es versuchen – für Erin.
Sie sucht sich schnell eine Adresse heraus und fertigt ein Manuskript an, dann schickt sie es an einem Verlag und hofft, dass es etwas wird.
Alles ihrer Schwester zuliebe.
Ich hoffe, dein Wunsch geht in Erfüllung, Little, denkt sich Leonora leise, als sie das Manuskript losschickt.
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Tower Bridge
RandomVom ersten bis zum einunddreißigsten Dezember war sie an der Tower Bridge. Mal früh, mal spät, mal den ganzen Tag über, mal für ein paar Stunden. Sie hatte einen geregelten Tagesablauf - bis sie ihn kennenlernte. Und mit ihm geschahen Dinge, die sie...