● Kapitel 16

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26. Dezember

// L O U I S //

»Das Jahr neigt sich dem Ende zu, Louis«, sagt Erin völlig in Gedanken versunken.

Ich nicke, auch wenn sie nicht hinsieht. »Was machst du Silvester?«, frage ich sie interessiert.

Sie zuckt mit den Schultern. »Nichts, sowie jedes Jahr«, meint sie. »Ich mag Silvester nicht so.«

»Wieso?«, frage ich sie neugierig und sie wendet den Blick zum ersten Mal richtig zu mir. »Ich will nicht taktlos rüberkommen oder so, überhaupt nicht, ich-«

»Silvester war für mich immer eine langweilige Nummer«, sagt sie. »Der wahre Hintergrund ist allerdings, dass ich es mit dem Leben und Tod in Verbindung bringe.«

»Weshalb?«, frage ich leise und schaue ihr tief in die Augen. »Du musst es nicht sagen, wenn du nicht willst.«

»Ich bin mit dem Thema Tod und an den Gedanken daran ziemlich scheu, will darüber nicht nachdenken, etc. Aber der Tod ist was völlig menschliches, normales, jeder Mensch stirbt«, sagt sie. »Trotzdem hasse ich den Tod über alles. Der Gedanke daran, irgendwann nicht mehr zu sein ist, ist so fremd, so, so... ich kann es nicht erklären.«

»Wenn ich es so richtig verstanden habe, dann hast du Angst vor dem Tod«, schlussfolgere ich und sie nickt. »Davor brauchst du doch keine Angst haben, Erin, das ist etwas, was du wohl kaum umgehen kannst.«

»Wer stirbt, wird irgendwann vergessen. Außer Hitler oder Gandhi«, meint sie dann. »Warum lachst du nicht? Jeder lacht über meine Angst.«

»Jemanden wegen seiner Ängste auszulachen ist unterste Schublade«, sage ich und lächle halb. »Jeder hat Ängste.«

»Augustus Waters hat Angst vergessen zu werden«, sagt sie dann und ich runzle die Stirn. Augustus Waters? »Kennst du den Film?«

»Welchen?«, frage ich sie und sie lächelt leicht.

»The fault in our stars«, sagt sie und ich nicke. Schon mal gehört. »Der Film ist so schön. Weißt du, Louis, ich weine nicht oft, aber dieser Film hat es so was von geschafft.«

»Wirklich?«, frage ich und sie nickt leicht lachend. »Den müssen wir mal zusammen schauen.«

»Wann willst du den bitte mal schauen?«, fragt sie grinsend.

Ich zucke mit den Schultern: »Keine Ahnung. Demnächst in den Tagen. Ich lade dich zu mir ein, oder ich komme mit zu dir. Das ist dir überlassen.«

»Louis, meinst du, dass es wirklich eine gute Idee ist?«, fragt sie etwas zweifelnd. »Ich nehme nicht oft Leute mit nach Hause und verabrede mich nie, außer diese täglichen Treffen hier an der Tower Bridge und... ich kann keine Kontakte pflegen. Irgendwann schiebe ich einfach jeden von mir. Es hat nichts mit dir zu tun.«

»Dein ernst, Erin?«, frage ich fassungslos und sie nickt, senkt dabei ihren Blick.

Das leise Schlucken ihrerseits entkommt nicht meinem Gehör. »Ja, mein völliger ernst. Ich habe es noch nie sonderlich lange geschafft, irgendwelche Freunde zu behalten, außer Internetbekanntschaften und die einzige, wahre Freundin ist Maylea – meine Cousine.«

»Du hast bestimmt Freunde, nur du siehst sie nicht als deine, sie dich aber«, meine ich dann voll überzeugt. Sie schüttelt den Kopf. »Doch, Erin. Du willst es nicht sehen.«

»Mein Gott, ja, ich habe vielleicht noch Stevie, toll, aber sie ist in Deutschland und ich habe seit dem 4. Dezember nichts mehr von ihr gehört«, platzt es dann aus Erin heraus. »Checkst du es nicht? Ich kann nicht mal diese Freundschaft halten, Louis! Wir streiten uns jetzt schon und ich habe bemerkt, dass es immer von mir ausgeht.«

Ich sehe ihr direkt in die Augen und sage: »Es wäre viel einfacher, wenn du ehrlicher und offener bist.« Doch es wird wahrscheinlich ein großer Fehler sein.

Ihre verzerrte Mimik versteinert sich, der Kiefer angespannt und die Augen voller Traurigkeit. »Wenn du mit so etwas nicht zurechtkommst, dann kann ich dir nicht weiterhelfen«, sagt sie dann verbittert und wendet sich ab, um – wie so oft – zu gehen.

»Du gehst jetzt nicht, Erin«, sage ich mit fester Stimme, doch sie ignoriert mich einfach. »Erin Diana Marin.«

»Du hast nicht das recht mich bei vollem Namen zu nennen, Louis«, sagt sie. »Oder soll ich Louis William Tomlinson sagen?«

»Lass es«, meine ich dann. »Wovor läufst du weg? Vor mir?«

»Nein«, sagt sie. »Ich laufe vor sozialen Kontakten weg. Ich kann sie sowieso nicht halten. Wozu es noch zu versuchen?«

»Du läufst vor dir selbst weg«, sage ich. »Du verbirgst etwas, hast Angst, dass jemand etwas darüber erfährt. Denk über meine Worte nach, Erin. Meinetwegen kannst du gehen, aber morgen werde ich wieder hier sein und dich erwarten, mir egal, wie lange ich warten muss.«

Sie schaut mich nur stumm an, kaut auf ihrer Unterlippe herum und wendet sich dann ab, um schnellen Schrittes zu gehen.

Irgendwie werde ich schon irgendwas über sie herausfinden, ich meine, das, was sie mir verheimlicht, kann nicht so schlimm sein. Außer sie hat Krebs und stirbt am 1. Januar 2015, aber das ist ziemlich unwahrscheinlich.

Es gibt schon einige Dinge, die ich über Erin weiß, aber nicht alles. So viele Sachen kenne ich nicht und das sind ausgerechnet die Sachen, die sie ausmachen.

Sie hat einen großen Bruder, eine Schwester namens Leonora, und trotzdem weiß ich nichts weiter über sie oder ihre Familie.

Wie mag sie Leben? Sind ihre Eltern geschieden oder sonstiges? Warum versteckt sie sich?

»Du hältst es nicht mehr lange aus, habe ich recht?«, höre ich eine Stimme neben mir und ich zucke kurz erschrocken zusammen. »Erin hält von sich nicht viel. Sie hasst es alleine zu sein, wenn es sein muss, aber sie liebt das Alleinsein, wenn sie es will. In der Schule war sie der schweigsame Außenseiter, sie ist eine in sich gekehrte Person und sie wurde vom Leben geprägt. Aber nicht nur sie, Louis. Ich wurde genauso wie unser großer Bruder geprägt – oh, und unseren kleinen Bruder. Sie hat in den letzten 6 Jahren gelernt, was Familie wirklich bedeutet. Sie würde für ihre Familie alles stehen und liegen lassen.«

»Warum erzählst du mir das, Leonora?«, frage ich sie irritiert.

Sie grinst geheimnisvoll. »Ich weiß, dass es dich brennend interessiert. Du magst Erin, aber wie du sie magst, kann ich nicht sagen, ich meine, dass müsstest du selbst wissen. Außerdem ist es irgendwie fair, wenn du etwas über sie erfährst, schließlich kann sie dein ganzes Leben im Internet lesen und du ihres nicht. Sie bedeutet dir etwas, das kann ich dir ansehen, und du versuchst ihr zu helfen, auch wenn sie immer wieder sagt und denkt, dass man ihr nicht helfen kann. Erin ist einfach eine tolle Person für sich und sie sieht die Dinge anders als wir. Jeder Mensch, der sie kennenlernt, sollte sie wertschätzen. Vermassle es nicht, denn ich weiß, dass es nicht mehr all zu lange dauern wird, bis sie dir die Tür zu einer neuen Welt öffnet.«

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