● Kapitel 9

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18. Dezember

// L O U I S //

»Hey«, begrüße ich sie etwas schüchtern und lächle leicht. »Wie geht's dir?«

»Wenn du auf gestern bezogen fragst, dann kann ich dir sagen, dass das gestern eine einmalige Sache war. Mir geht es gut. Mir geht es einfach immer gut. Bis auf gestern«, sagt sie schnell und verhaspelt sich etwas. Ich will und kann ihr nicht glauben, denn einem Menschen kann es nicht ständig und ununterbrochen gut gehen. Zwar sagt sie, es wäre eine einmalige Sache, doch wer weiß - vielleicht ist es jedes Jahr am 17. Dezember so?

»Weißt du, Erin, ich glaube dir nicht. Du magst viel und offen reden, aber so viele Sachen versteckst du. Ich weiß deinen vollen Namen und was du gerne hörst, deine Herkunft... so vieles weiß, aber genauso viel weiß ich von dir einfach nicht«, sage ich und sie schaut mich mit angespannten Kiefer an. »Tut mir leid, dass ich es so ausdrücke. Aber so ist das nun mal.«

»Leute kommen und gehen im Leben, Louis. Genauso wie du kommst, wirst du gehen. Ich werde auch gehen, mein Leben vielleicht hinter mir lassen, neu anfangen oder sonst was«, zischt sie und atmet tief durch. »Du bist ein Star, ein dazu sehr berühmter Star. Was sorgst du dich um die Probleme einer bescheuerten Person wie mir? Ich bin es nicht wert und wahrscheinlich kannst du jetzt undankbar dazu zählen. Du wirst wahrscheinlich jetzt ein total falsches Bild von mir bekommen, aber-«, sie unterbricht sich selbst. Ich sehe die Tränen in ihren sonst so schönen Augen schimmern. »Nichts aber. Da gibt es kein Aber. Vergiss alles, was du dank mir je kennenlernen konntest. Wenn dich meine Persönlichkeit doch so sehr ankotzt, warum kommst du denn sobald du frei hast hier an zur Tower Bridge? Leute vergessen. Ich werde dich wahrscheinlich nie vergessen, aber du mich.«

Bevor ich irgendwelche Proteste aussprechen kann, macht sie mir einen Strich durch die Rechnung und geht in zügigen Schritten in die entgegengesetzte Richtung, aus der ich sonst immer komme.

Vielleicht war es doch ein bisschen dämlich von mir, sie wie so eine männliche Zicke anzuzicken.

Ich mag ja berühmt sein, was aber nicht heißt, dass ich sie vergesse.

Hätte ich sie vergessen, woher wusste ich, wo ich sie eventuell finden konnte?

Mir ist klar, dass ich in einer Wunde gebohrt habe, vielleicht diese Wunde auch aufgerissen und mit Salz bestreut.

Es muss etwas in ihrem Leben sein, dass ihr immer wieder wehtut, was ihr Schwachpunkt ist.

Zudem muss es auch ein Thema sein, worüber sie selten oder gar nicht spricht.

Es kann etwas sein, was ihr den Boden unter den Füßen weggerissen hat. Sie im Dunkeln tappen musste. Sie aus irgendeinem schwarzen Loch kommen musste.

Zu gerne würde ich ihr helfen, doch sie scheint sich in diesem Fall mir gegenüber zu verschließen. Vielleicht nicht nur mir, sondern auch vor anderen Personen.

Ehrlich gesagt weiß ich rein gar nichts über Erin. Klar, ich kann ihren Namen. Ich weiß, dass sie einen Bruder und eine Schwester haben muss. Sie weiß viel über die Vernichtung der Juden, liest viel, hört viele verschiedene Künstler, viele verschiedene Arten von Musik.

Aber wer ist Erin wirklich? Wie sieht es in ihr aus? Was denkt sie über die Welt, das Leben, über sich selbst?

Alles was ich sagen kann, ist, dass Erin offenherzig, sympathisch, höflich, süß... und einfach hübsch. 

Ich verstehe sie, wenn ich ihr zu nahe getreten war.

Seufzend fahre ich mir mit meiner Hand durch die Haare und schaue in die Richtung, in der Erin verschwunden ist, doch ich erkenne von hier eine kleine schwarze Gestalt.

Die Gestalt dreht sich um und ich erkenne das helle Gesicht eines wunderschönen Mädchens, mit welchem ich mich vorhin gestritten habe.

Für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich, dass sie zurückkommen würde, doch dann dreht sie sich um und läuft weg.

Kein normales gehen, nein, sie rennt. Sie rennt förmlich vor etwas weg. Vor mir.

Etwas enttäuscht darüber, dass sie nicht umgekehrt ist, schaue ich in die Themse.

Wenn ich wüsste wo Erin wohnen würde, dann würde ich sie besuchen, abfangen, was auch immer.

Ich würde versuchen, dass dieses Etwas zwischen uns verschwindet.

Nichts, aber auch rein gar nichts soll zwischen ihr und mir stehen.

Erin ist eine total süße, liebevolle Person, aber ich schätze mal, dass ich auch so was von stur sein kann.

Wenn sie den Mund öffnet, dann kommt größtenteils etwas wissenswertes raus. Sie zeigt ihre Intelligenz, ihre Interessen und erklärt mir Dinge, die ich noch nicht ganz verstanden hatte.

Ja, Erin ist eine sehr süße, liebevolle Person und bedauerlicherweise habe ich in ihrer Wunde gebohrt und Salz hinein gestreut.

Wenn sie nach dieser Aktion immer noch mit mir reden würde, dann wäre ich ihr äußerst dankbar. Wenn nicht, dann nicht. Schließlich habe ich mir dass dann auch selbst zu verdanken.

Erin ist bestimmt wie ein offenes Rätselbuch. Okay, nicht wirklich wie ein Rätselbuch. Doch, irgendwie schon.

Das Mädchen ist wie ein offenes Buch, sie erzählt einem von ihrem Leben, aber sie behält so viele Geheimnisse in sich, die man irgendwie herausfinden kann.

Das hört sich doch bescheuert an.

Wieder einmal seufze ich, stoße mich von dem Geländer ab und schlage den Weg nach Hause ein.

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