● Kapitel 52

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»Erin wollte nicht, dass ich dir etwas sagte, sonst hätte sie es getan«, erklärt mir Leonora, als wir auf dem Flur stehen. »Ich weiß nicht, was durch ihrem Kopf gegangen war. Das werden wir vielleicht auch nie wissen, Louis, aber wir wissen nicht, ob sie überhaupt aufwacht. Schlimm genug, dass die Leute vom Fernsehen den Bericht unbedingt von meinem Vater haben wollten. Sollen uns die Liebsten immer an der Tower Bridge genommen werden?«

»Leo...«, sage ich leise, doch sie schüttelt den Kopf und presst die Augenlider zusammen, woraufhin vereinzelte Tränen ihre Wangen hinunterlaufen.

Sie schüttelt den Kopf. »Nein, Louis. Zuerst unsere Mutter, dann Erin... wer ist es als nächstes? Liam? Mike? Oder doch Dad?«, fragt sie mich, doch ich kann nichts darauf erwidern. Wie könnte ich auch?

»Erin wird es schaffen, ich bin fest davon überzeugt«, sage ich. Nein, bin ich ehrlich gesagt nicht. Ich weiß nicht, wie schlimm es um sie steht. Alles was wir können ist nur zu hoffen, dass sie bald aufwachen wird. Ich wünsche mir das so sehr. Leo scheint sich beruhigt zu haben, denn sie schaut mich an.

»Ich will, dass sie zurückkommt«, sagt sie dann. »Erin und ich haben über die Monate geschrieben, sie erzählte mir Dinge, sie hatte Jungs kennengelernt, den einen fand sie heiß - der allerdings schwul war, und sie hat mir indirekt mit dem Buch bestätigt, dass sie dich mag. Sehr mag, versteht sich. Und weißt du was? Ich wünsche dir, aber viel mehr ihr, dass sie aufwacht und ihr zusammen sein könnt. Glücklich zusammen sein könnt. Es sei denn, Erin ist immer noch ein Sturkopf und steht sich selbst im Weg.«

»Warum steht sich Erin immer selbst im Weg?«, frage ich nach und Leonora seufzt.

»Das Leben hatte ihr immer wieder große Enttäuschungen geboten. Irgendwann sah sie als einzige Lösung, dass das Schicksal sie nicht glücklich sehen will«, meint Leo. »Ich habe das aus ihrem Buch herauslesen können.«

»Jeder Mensch verdient es glücklich zu werden«, sage ich und schaue ihr intensiv in die hellen Augen. »Und Erin verdient eine große Menge an Glück.«

»Hoffen wir das Beste«, murmelt sie. »Ich hoffe einfach, dass alles so wie früher wird. Ich wünsche mir nichts anderes, außer das.«

»Kannst du mir etwas über das Buch erzählen?«, frage ich, nachdem eine komische Stille entstanden ist.

Sie nickt. »Erin hatte ihr Leben ab ihrem 13. Lebensjahr beschrieben. Sie schrieb, wie sie sich niederträchtig und hässlich gefühlt hatte. Zuerst beschrieb sie, wie sie in der Schule angesehen wurde, da jeder wusste, sie wäre die Tochter eines Nachrichtensprechers und einer wahnsinnigen Modedesignerin, die dazu noch Stylistin war. Mom war wirklich Modedesignerin und Stylistin. Jetzt ist sie Kellnerin in einem Café, aber es tut jetzt nichts zur Sache. Jedenfalls schrieb sie dann von dem Unfall und wie ihre Welt zusammenbrach. Sie schrieb über Gefühle, über die sie nie geredet hatte. Sie sagte, es wäre vielleicht besser für sie, also Mom, gewesen. Wer weiß, wer weiß. Sie dachte darüber nach, was das Schicksal noch so alles vorhatte. Sie hatte gedacht, dass Mom vielleicht von ihrem Leben ermüdet war und das Schicksal es bemerkt hatte, weshalb er ihr etwas Neues bot und sie es ohne zu Überlegen annahm. Rinrin schrieb über das Leben in der Schule, den Wechsel an die Wirtschaftsschule, etc. Sie hatte es nicht leicht im Leben, jeder neckte sie damit, dass sie wie ein »Baby« aussah, da sie vom Gesicht her ziemlich jung wirkt - mein Gott, ich meine, ist das nicht scheiß egal? Ich sehe aus wie 16 bis höchstens 18 Jahre alt aus. Aber Erin hatte schon immer eine sehr empfindliche Persönlichkeit. Du hast es vielleicht nicht bemerkt, aber Erin hatte es gestört sie selbst zu sein. Sie hasste es, dass sie kein Selbstvertrauen in sich hatte und noch weniger konnte sie es ausstehen, dass sie kein Selbstwertgefühl besaß. Es störte sie so sehr, dass sie sich abschottete. Meine Schwester hatte es schwer gehabt Freunde zu finden und wenn jemand etwas nicht so Nettes über sie sagte, war sie schnell gekränkt und versuchte es allen Recht zu machen. Sie schrieb über ihre Jahre, in der sie sich einsam fühlte. Sie schrieb »Es ist komisch, wie sehr wir uns wohl fühlen, wenn wir alleine sein wollen, allerdings dann verzweifeln, wenn wir alleine sein müssen«. Mit diesem Spruch hatte sie so was von recht. Sie sagte Sachen wie »Ich bin es satt so zu tun, als würde es mir gut gehen« oder »Ich bin nicht die Art von Mädchen, in die Jungs sich verlieben« und »Irgendwann wird schon irgendjemand kommen und mich so fest umarmen, sodass all meine gebrochenen Teile wieder ganz werden«

»Schrieb sie noch mehr?«, frage ich leise. Ich hätte niemals mit gerechnet, dass sie sich so fühlte.

»Sie hatte sich einsam, depressiv, nichtsnutzig, dumm und schlecht gefühlt. Sie hatte sich eine Person gewünscht, die ihr zeigt, dass es nicht nur Schlechtes auf der Welt gibt. Sie wollte die guten Dinge des Lebens kennenlernen, sie wollte leben und nicht in ihrer Fantasiewelt verweilen«, erzählt mir Leo. Sie holt nochmal zum Weitersprechen Luft, doch plötzlich ertönt aus dem Raum neben uns ein gleichmäßiges Piepen. Ohne Unterbrechung.

»Erin...«, flüstert sie leise und sofort schießen ihr wieder Tränen in die Augen. »ERIN!«, schreit sie auf einmal und will in das Zimmer, doch ein Arzt und drei Krankenschwestern kommen ihr zuvor.

Leonora wird davon abgehalten in den Raum zu gehen und ich stehe hier in einer Schockstarre, mit dem Wissen, dass Erin gerade um ihr Leben kämpft.

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