3. Dezember 2015
»Oh mein Gott!«, freut sich Erin. »Du weißt nicht, was passiert ist!«
»Nein, das weiß ich wirklich nicht, aber ich bin mir sicher, dass du es mir gleich erzählen wirst«, schmunzle ich, während Erin beginnt zu lachen. »Nun sag schon.«
»Leonora darf auf der Weihnachtsfeier am 6. Dezember von der Musikschule Piano spielen und ich soll sie mit meinem Gesang begleiten!«, erzählt sie aufgeregt. »Und dann soll ich noch ein Lied von Ed Sheeran singen, während Mike Gitarre spielt.«
»Hört sich doch toll an«, meine ich lächelnd. »Am 6. Dezember habe ich frei.«
»Heißt es, dass du vorbeischauen wirst?«, fragt sie mich und beißt sich auf die Unterlippe, was mich ehrlich gesagt ein bisschen anmacht.
»Ich denke mal schon«, grinse ich. Vielleicht nehme ich einen von den Jungs mit, denke ich mir und nehme mir für später vor zu fragen, ob mich jemand begleitet.
»Oh, okay. Cool«, lächelt sie schief. »Aber bitte lach mich dann nicht aus.«
Ich lache leise auf: »Aber nicht doch.«
»Gut, ansonsten kastriere ich dich«, droht sie mir und schaut ernst drein, sodass ich nicht weiß, ob sie es ernst oder doch nur zum Spaß meint.
»Uhm...«, sage ich leise. »Autsch?«
Erin fängt an zu lachen: »Dein Gesicht! Zu geil!«
»Du...«, sage ich und überlege mir, wie ich sie aus Spaß beleidigen könnte, doch so wie das Schicksal es so will; mir fällt nichts ein. »Ich-«
»Chill' Louis«, grinst sie mich an, nachdem sie sich beruhigt hat. »So etwas würde ich nie machen.«
»Wer weiß, wer weiß«, grinse ich und sie öffnet empört ihren Mund. »Scherz, Little, ich hab' dich doch lieb.«
Vielleicht mehr als das »liebhaben«. Okay, gut. Nicht nur »vielleicht«, denn es ist Tatsache und offensichtlich, dass ich sie mehr mag als nur »liebhaben« - in meinen Augen zumindest.
»Hey, nur meine Familie nennt mich so«, sagt sie dann, grinst allerdings dabei.
»Harry hatte mich mit zu euch genommen«, sage ich und schaue zum Big Ben, den man von hier aus sieht. »Er hatte mir den Keller gezeigt.«
»Er hat was?«, fragt Erin ernst und sieht nicht wirklich darüber erfreut aus. »Dieser kleine Pis-«
»Beruhig dich«, versuche ich sie zu besänftigen, doch sie schaut mich mit einem Ist-das-dein-Ernst-Blick an. »Du hast den Raum interessant und schön gestaltet.«
»Wow«, sagt sie gelangweilt und verdreht die Augen. »Und? Was hat er gesagt? Dass ich Talent habe und wieder anfangen sollte?«
»Ja, das hat er so ziemlich gesagt«, bestätige ich und sehe sie skeptisch an. Ist das jetzt so ein Weltuntergang? »Komm schon Erin, so schlimm ist es nicht.«
»Ich habe Kunst und alles drum und dran aufgegeben«, sagt sie. »Ich will nichts mehr damit zu tun haben.«
»Ich verstehe das ehrlich gesagt nicht«, gestehe ich ihr und sie schaut mich ein wenig fassungslos an. »Was würdest du denken, wenn ich sagen würde, ich höre mit dem Singen auf und werde auch nie wieder singen?«
»Dass du einen Vogel hast«, schnaubt sie. »Das kannst du nicht vergleichen, Louis.«
»Oh doch und wie ich das kann«, erwidere ich daraufhin. »Du hast Talent, Erin.«
»Reicht es nicht, dass ich das Buch geschrieben und somit mein Talent im Schreiben gezeigt habe?«, fragt sie mich mit einem gewissen Unterton in der Stimme.
»Harry hatte es mir aber so vermittelt, dass du dich unbeschwert und befreit gefühlt hattest, und wenn du so etwas gefunden hast... sollte man das nicht gehen lassen«, sage ich und überdenke meine Wörter nochmal. Ist es wirklich schlau von mir sie wieder zu etwas anderem überzeugen zu wollen? Denn es endet immer in einem Streit, an dessen Ende sie zudem immer wegläuft.
»Ach? Und was ist mit deinem ach so tollen Fußball?«, fragt sie eingeschnappt. »Du spielst auch schon lange nicht mehr.«
»In meiner Freizeit ab und zu schon«, widerspreche ich ihr. »Du kannst nichts behaupten von dem du keine Ahnung hast!«
»Ach und du kannst es? Super, Louis, wirklich... wow!«, meint sie sarkastisch. »Weißt du was? Leck mich einfach. Okay? Leck mich.«
»Erin, ich habe keinen Bock mit dir zu streiten, mein Gott! Wieso musst du mir immer und überall widersprechen und meinen, dass ich falsch liegen würde? Was - sag mir nur Gott verdammt; was ist so falsch daran?!«, fahre ich sie an und kann es nicht verhindern, dass meine Stimme etwas lauter wird. »Wir wollen verdammt nochmal alle, dass du glücklich wirst. Kapierst du es nicht? Wir wollen dir helfen wieder richtig und unbeschwert glücklich zu werden, aber sobald dir jemand offenbart, dass er sich Sorgen um dich macht, machst du dicht und wirst zur einer sturen Ziege!«
»Das ist es ja!«, sagt sie mit erhobener Stimme. »Jeder will mir helfen. Helfen hier, helfen da. Helfen überall! Wie ich mir dabei vorkomme wird gänzlich ignoriert. Hauptsache man kann mir helfen. Du verstehst es nicht. Du verstehst mich nicht und das unterscheidet uns. Ich kann dich mit deinen Problemen verstehen, du aber nicht mich mit meinen und das geht mir so was von auf die Nerven!«
»Sie meinen es doch alle nur gut mit dir!«, pfeffere ich zurück und sie schaut mich mit einem Todesblick an, von dem ich nicht wusste, dass es den überhaupt gibt. »Warum tust du dann so, dass dir alle den Tod wünschen?«
»Der größte Feind, den es gibt, bin ich selbst und ich hasse es, dass ich lernen muss, mich selbst richtig akzeptieren zu müssen, bevor es jemand anderes tut«, spuckt sie verbittert aus und ich schlucke. »Jetzt weißt du etwas, was niemand weiß. Es ist mir irgendwie klar geworden, als ich im Krankenhaus im Beisein von Leonora aufgewacht war.«
»Du siehst dich selbst als deinen Feind?«, frage ich verwirrt. »Erin, das geht normalerweise ni-«
»Klar geht es«, faucht sie und legt die Arme um sich selbst. »Du verstehst es nur nicht! Außerdem hast du mir nicht zu sagen, ob es nun mal geht oder nicht, denn ich sehe es nun mal so und du nicht. Das nennt man Meinungsverschiedenheit, hast du gehört? M-E-I-N-U-N-G-S-V-E-R-«
Bevor noch ein weiterer Buchstabe über ihre Lippen kommt, lege ich meine Hand an ihre Wange und bringe sie zum Schweigen, indem ich sie küsse. Allerdings muss ich nicht hoffen, ob sie ihn erwidert oder nicht, denn sie tut es. Nennt es klischeehaft, aber es funkt zwischen uns mehr als keine Ahnung was.
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Tower Bridge
RandomVom ersten bis zum einunddreißigsten Dezember war sie an der Tower Bridge. Mal früh, mal spät, mal den ganzen Tag über, mal für ein paar Stunden. Sie hatte einen geregelten Tagesablauf - bis sie ihn kennenlernte. Und mit ihm geschahen Dinge, die sie...