● Kapitel 18

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28. Dezember

»Warum hast du mich gestern mitgenommen?«, frage ich sicherheitshalber nach, da wir schon seit geschlagenen 25 Minuten schweigend nebeneinander an der Tower Bridge stehen.

Erin zuckt mit den Schultern: »Ich habe es für fair gehalten. Sei doch froh.«

»Ich will nicht streiten, Erin«, sage ich und seufze kaum hörbar. »Ich fühle mich geehrt, dass du mich so in dein Leben gelassen hast.«

»Geehrt?«, fragt sie mit einer hochgezogenen Augenbraue und ich nicke leicht lachend, um die Stimmung etwas aufzulockern. »Hast du Fragen bezogen auf gestern?«

»Wie viele Stiefgeschwister hast du insgesamt?«, frage ich interessiert. Ich habe nicht mitgezählt, wie viele es sind.

»Fünf Stief- und drei leibliche Geschwister«, sagt sie und ich nicke. »Noch mehr Fragen?«

»Wohnst du mit deiner Stiefmutter und deinen Geschwistern beziehungsweise Stiefgeschwistern zusammen?«

Erin schüttelt den Kopf. »Nein, mein Vater war arbeiten. Du kannst ihn immer in den Nachrichten sehen.«

»Sag mir nicht, dass dein Vater-«

»Nachrichtensprecher ist? Ja, doch. Das ist er«, sagt sie und grinst.

»Logan Marin«, sage ich dann nach einer Minute, die ich zum Nachdenken verschwendet habe. »Der einzige, in Frage kommende Nachrichtensprecher ist Logan Marin.«

»Richtig«, sagt sie nickend. »Mein Daddy ist Logan Marin.«

»Dein Vater hatte dich sozusagen interviewt?«, frage ich sie grinsend.

Sie beginnt zu lachen. »Ja, ich war zuerst irritiert, bis ich die Kamera sah. Das war alles ein lustiger Zufall«, sagt sie immer noch leicht lachend.

»Glaube ich dir«, grinse ich. »Und? Hast du neue Vorsätze fürs neue Jahr?«

»Weißt du...«, sagt sie etwas verträumt. »Ich will endlich richtig leben

»Inwiefern?«, frage ich nach.

Sie schaut in den Himmel. »Dinge tun, ohne mir Gedanken zu machen. Frei Schnauze entscheiden, was ich tun will. Spaß haben. Etwas erleben. Keine Ahnung. Grob gesagt; leben

»Nach dem Motto »Lebe jeden Tag, als wäre es dein letzter«?«, frage ich nach und sie nickt.

»Würde ich das machen, wäre ich emotional total am Ende«, meint Erin dann. »Sieh man an, Louis. Ich bin eine Person, die nie etwas sagt. Ich gehöre zu den Personen, die denken, dass sie nicht aus der Reihe tanzen sollten, die kleine graue Maus spielen und sich so unwahrscheinlich verhalten, dass man dreimal überlegen musst, ob die Person im Haus ist oder nicht.«

»Echt?«, frage ich überrascht. »So kommst du nicht rüber.«

»Mädchen können viele Masken auf haben«, sagt sie, als wäre es so was von selbstverständlich und normal. »Ich sag dir mal was, Louis. Wenn du es schaffst, dass dir ein Mädchen ihr wahres Gesicht zeigt, dann halte sie fest. Du wärst ihr Kerl für den Rest des Lebens. Enttäuscht du allerdings das Mädchen, was sich dir geöffnet hat, so zerbricht sie innerlich. Irgendwann, wenn es so weitergeht, denkt sie sich, dass sie ohne einen Mann zurechtkommen wird. Aber seien wir uns ehrlich, keiner will bis zum Ende des Lebens alleine sein.«

»Was ist, wenn ich ein Mädchen haben will, sie sich allerdings in einer gewissen Weise von mir abschottet und für mich somit unerreichbar bleibt?«, frage ich nach.

Sie zuckt wieder mit den Schultern. »Dann musst du daran arbeiten. Aber wenn das Mädchen immer noch nichts kapiert, dann solltest du dir vielleicht ein Neues suchen. Aber nicht, dass du auf diesen sogenannten Arschloch-Trip kommst.«

»Hältst du mich wirklich für so etwas?«, frage ich etwas entrüstet.

»Nein«, sagt sie bestimmt. »Du sollst nur nicht auf den Geschmack kommen, die ganzen Herzen der Mädels zu brechen.«

»Mädchen sind gut zu behandeln, Erin. Glaub mir, das hat mir meine Mutter immer wieder gesagt«, meine ich leicht schmunzelnd. »Es ist nie meine Absicht irgendwelchen Mädchen das Herz zu brechen.«

»Dann hoffen wir mal, dass du auch keine brechen wirst«, scherzt sie ein bisschen, doch wird dann schnell wieder ernst. »Weißt du, Louis, ich schaffe es irgendwie immer irgendwelche Herzen zu brechen und das ist immer unbeabsichtigt. Ich bin kein guter Mensch.«

»Doch, klar«, widerspreche ich ihr. »Du bist ein sehr guter Mensch.«

»Nein, ich lache sogar, wenn sich Leute schlimm verletzen oder so«, beharrt Erin. »Du kennst mich seit... lass mich kurz rechnen... 22 Tagen.«

»Nein, ich kenne dich seit-«

»Das zählt nicht, Louis«, sagt sie dann. »Das zählt ganz und gar nicht.«

»Sollen wir uns wieder streiten oder was?«, frage ich sie schon langsam genervt. Immer endet das gleich.

»Siehst du?«, fragt sie mich und ich sehe sie irritiert an. »Streitigkeiten kommen immer von mir aus. Ich bin ein schlechter Mensch.«

»Glaubst du«, widerspreche ich ihr schon wieder. »Erin, zu einem Streit gehören immer zwei Personen.«

»Ja, aber ich reagiere jedes Mal über«, sagt sie. »Und weißt du, was ich noch hasse?«

»Komm, sag es mir«, fordere ich sie dazu auf.

»Ich hasse es, dass ich immer vor Sachen, die mir nicht Geheuer sind, weglaufe!«, schreit sie auf einmal.

Ich zucke wegen ihrer Lautstärke leicht zusammen. »Ist ja gut, Erin«, wehre ich ab. »Ich bin nicht taub.«

»Manchmal habe ich das Gefühl, dass du es sogar bist«, faucht sie. »Und wie du merkst, bin ich ein schlechter Mensch. Dagegen kannst du verdammt nochmal nichts sagen.«

»Warum tust du das?«, frage ich sie.

Verständnislos sieht sie mich an. »Was meinst du?«

»Du versuchst unsere Freundschaft zu zerstören, indem du es schaffen willst, dass ich dich hasse«, sage ich, als ich es endlich erkenne.

»Glaub mir, Louis«, sagt sie. »Es ist besser so.«

»Nein«, sage ich. »Ist es nicht.«

»Doch.«

Ich stöhne genervt auf. »Was ist nur mit dir los?!«

»Du kapierst es sowieso nicht!«, ruft sie dann aus. »Kann ich jetzt gehen?«

»Nein«, bleibe ich stur. »Ich will es wissen.«

»Google mal den 17. Dezember 2008«, sagt sie. »Dann können wir weiterreden.«

Damit wendet sie sich ab und stapft bei fallendem Schnee davon. Was ist ihr verdammtes Problem?!

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