20. Dezember
»Du bist wieder hier, um mit mir zu reden, vielleicht um Entschuldigung bitten, oder sonst was, aber das brauchst du nicht tun«, sagt Erin, als ich gerade mal vor weniger als 30 Sekunden angekommen bin. »Wir brauchen nicht zu reden, du brauchst dich nicht entschuldigen oder sonst was, es war eine Kurzschlussreaktion meinerseits. Ich stoße Leuten gegen den Kopf, wenn sie anfangen sich Sorgen um mich zu machen. Ich fand es selbst erschreckend, wie ich am 17. drauf war und wie ich dann auf dich am 18. reagiert hatte. Weißt du, Louis, das Leben ist kompliziert genug. Machen wir es nicht komplizierter. Vergessen wir es einfach und tun so, als wäre es wie jeder Tag. Ich fange ein Gespräch wieder mit einer belanglosen Frage an und schon rede ich wie ein Wasserfall. Einfach ohne Punkt und Komma.«
Sprachlos sehe ich sie an. Sie will das, was ihr auf dem Herzen liegt, einfach vergessen und da weitermachen, wo wir eigentlich aufgehört hatten.
»Welche Städte magst du?«, fängt sie mit ihrer belanglosen Frage an. »Ich speziell träumte immer davon, Paris zu besuchen, genauso wie Istanbul, Venedig, Wien, Rom, Sydney und Dublin. Aber bis heute habe ich es einmal nach Hamburg und Berlin geschafft. Okay, Hamburg war ich schon öfters.« Sie grinst leicht. »Du warst bestimmt schon überall und nirgendwo«, meint sie dann etwas verträumt. »Ich wollte eigentlich auch mal nach Amerika oder so.«
»Okay...«, sage ich und beschließe ihr einfach zuzuhören, egal was sie sagt. Vermutlich werde ich sowieso was falsches sagen, wenn ich den Mund öffne - und dass will ich nicht riskieren.»Du musst schon mit mir reden, so wie in den letzten Tagen, ansonsten... wird das alles nichts«, meint Erin seufzend und wendet den Blick von mir ab. »Weißt du, Louis, um dir vielleicht etwas zu beantworten... also... wie soll ich es sagen? Mein Leben bricht für mich seit 6 Jahren am 17. Dezember zusammen. Es muss allein nur dieser Tag sein, Louis. Nur dieser Tag. Die restlichen Tage sind mir egal. An denen kann ich unbeschwert glücklich sein. Nur der 17. Dezember ist mein heiliger Tag, auch wenn ich manchmal denke, dass sich dieser Tag quälend in die Länge zieht und mich beinahe verrückt macht. Du weißt nicht, wie ich gerne fast alles um mich geworfen hätte, sei es meine heißgeliebte Weihnachtstasse gewesen, die tausend Messer um mich herum, die Pfannen, Stühle, der Tisch, Teller. Ich hätte einfach gerne alles um mich geworfen. Über das ganze Jahr bin ich so gut wie ununterbrochen glücklich, das ganze Negative kommt nur an diesen einen Tag und weißt du was? Niemand weiß davon. Nicht mal meine Geschwister. Sie sehen das, was sie jeden Tag sehen. Mein Vater sieht jeden Tag, was er sieht. Meine Mutter sieht jeden Tag, was sie sieht. Ein Mädchen, was stets das Mauerblümchen ist. Lass uns nicht über mich reden, ich hasse das, irgendwie fühle ich mich dann nackt und das ist dezent ungeil.«
»Ungeil? Ich wusste gar nicht, dass du auch solche Wörter in den Mund nimmst«, schmunzle ich dann.
Sie grinst: »Du weißt nicht, was ich noch so alles in den Mund nehme. Oh fuck, jetzt denk nicht-«
Laut lache ich los und sehe, wie sie knallrot wird.
»Du solltest nicht direkt in die Richtung denken...«, murmelt sie peinlich berührt und ich lache einfach weiter. »Hör auf zu lachen, Louis. Das ist nicht witzig!«
Jammernd haut sie mir auf den Oberarm und schiebt dann eine Unterlippe hervor, während sie einen Hundeblick aufsetzt. Es sieht einfach putzig aus.
Nach einiger Zeit beruhige ich mich wieder und sie sieht mich beleidgt an. »Das war nicht witzig, Louis. Ganz und gar nicht, das war einfach uncool.«
»Vielleicht solltest du zuerst denken und dann reden«, gebe ich ihr den grandiosen Tipp und sie verdreht die Augen, muss allerdings grinsen.
»Danke für den Tipp«, gibt sie ironisch von sich, lacht daraufhin und verschränkt die Arme vor der Brust. »Das war jetzt echt total peinlich, Louis. Voll uncoole Sache, dass du gelacht hast. Ich bin selten dämlich und wenn doch, dann aber richtig.«
»Das hat Leonora auch gesagt«, sage ich und sie sieht mich überrascht an. »Ich wollte gestern gucken, ob du hier bist, aber warst du nicht. Stattdessen stand hier ein Mädchen und stellte sich als Leonora Marin vor. Deine Schwester halt.«
»Ich wusste gar nicht, dass sie hier war... jetzt weiß ich, wo sie gestern war und ich hatte mich gefragt, was sie solange brauchte«, lacht Erin leise.
»Ist das Abendessen gut angekommen?«, frage ich und sie nickt - mit einem stolzen Lächeln im Gesicht. »Freut mich.«
»Mein Essen ist oft genug gut angekommen«, grinst mich Erin an und ich schmunzle.
»Dann kannst du ja für mich und dich kochen«, grinse ich dann und sie lacht.
»Dein Ernst?«, grinst sie dann.
Ich zucke mit den Schultern: »Man könnte es machen, muss man aber nicht.«
»Irgendwann«, grinst sie. »Okay?«
»Okay«, stimme ich ihr zu. »Ich freue mich jetzt schon irgendwie drauf.«
»Ja«, bestätigt Erin lächelnd. »Ich mich irgendwie auch.«
DU LIEST GERADE
Tower Bridge
RandomVom ersten bis zum einunddreißigsten Dezember war sie an der Tower Bridge. Mal früh, mal spät, mal den ganzen Tag über, mal für ein paar Stunden. Sie hatte einen geregelten Tagesablauf - bis sie ihn kennenlernte. Und mit ihm geschahen Dinge, die sie...