10. Dezember 2015
»Erin!«, ruft Leonora und stürmt in mein Zimmer. Louis war vor einer Stunde wegen einem Meeting gegangen, weshalb ich nun alleine auf mein Bett sitze und ein Buch lese. Aber Louis hatte gesagt, er wäre viel lieber bei mir geblieben, denn er habe das Gefühl, dass es sonst wie bei einem klischeehaften One Night Stand aussehen würde. Sozusagen einmal miteinander schlafen und am nächsten Morgen einfach weg. Doch so schätze ich Louis nicht ein. Nein, überhaupt nicht.
»Was ist?«, frage ich, packe mein Buch in aller Ruhe beiseite und falte meine Hände in meinen Schoß zusammen.
»Was war das gestern Abend?«, fragt sie mich neugierig, zieht meinen Schreibtischstuhl vor mein Bett und setzt sich darauf.
Ich sehe sie, ohne eine Mimik zu zeigen, an: »Wo waren die Anderen? Dad und Emily waren ja auf ein Geschäftsessen, aber-«
»Isabella und Mike haben im Keller die Leinwand aufgebaut und hatten sich einen Horrorfilmmarathon geleistet«, meint Leonora dann und ich nicke. »Und du Erin? Was war-«
»Ja, ich habe mit ihm geschlafen, falls du das aus mir herausbekommen wolltest«, unterbreche ich sie, so wie sie mich unterbrochen hat.
Sie runzelt die Stirn: »Warst du überhaupt noch Jungfrau?«
»Nein«, sage ich ihr die Wahrheit.
Ihre Augen weiten sich. »Du warst keine Jungfrau mehr? Sag mal... wann hattest du dann bitteschön dein erstes Mal? Ich war davon ausgegangen, dass du Jungfrau bist...«
»Nun ja, ich bin es seit 3 Jahren nicht mehr«, sage ich und zucke mit den Schultern. »Nicht so wichtig.«
»Habt ihr verhütet?«, fragt sie mich und ich schüttle den Kopf. »Erin, wenn du-«
»Ich habe die Pille, Leonora, das müsstest du wissen, weil du sie mir selbst, als ich 16 Jahre alt war, angedreht hattest«, sage ich und unterbreche sie somit nochmal, doch es scheint sie relativ wenig zu stören. »Und ich kann mir schon denken, was deine nächste Frage sein wird und zwar: Wie war es? Nur ich sage nicht, wie es war, denn es ist mein Sexleben und es geht dich nichts an.«
»Ich würde auch mit dir darüber reden!«, ruft sie schmollend.
Ich sehe sie mit einer hochgezogenen Augenbraue an. »Nein, das würdest du nicht tun.«
»... stimmt«, sagt sie dann und ich verdrehe grinsend die Augen. »Okay, gut. Erwischt. Ich bin neugierig und so. Tut mir ja leid, ich habe dich halt mit einem Typen erwischt.«
»Ich dich doch auch und zwar mit Dean«, grinse ich und sie wechselt sofort das Thema.
»Was machen wir heute noch so?«, fragt sie.
Lachend schüttle ich den Kopf. »Wir? Was du vorhast, weiß ich nicht, und was ich vorhabe? Keine Ahnung. Ich kann mir denken, dass ich Louis wiedersehen werde.«
»Seid ihr zusammen?«, fragt sie mich dann, nachdem sie einige Minuten geschwiegen hat.
»Nein, sind wir nicht«, sage ich und senke nachdenklich den Blick. Was ist, wenn Louis das alles nicht ernst meint? Ach was, Erin, sagt eine Stimme in meinem Kopf, wirf diesen Gedanken sofort wieder weg, der Gedanke ist nämlich böse.
»Er wird dich spätestens heute Abend fragen«, versichert mir Leonora mit einem ziemlich sicheren Lächeln auf den Lippen. »Und wenn nicht, dann warst du für ihn zu schlecht im Bett. Aber das war bestimmt dein zweites Mal.«
»War’s auch«, gestehe ich und werde ein wenig rot. »Ich würde ihn killen, wenn-«
»Denk nicht daran, er ist hundertprozentig nicht so ein Typ«, beteuert Leo dann. Sie hat recht. Er ist nicht so ein Typ. »Denk an das Positive. Ihr wärt ein krass süßes Paar.«
»Krass süß?«, frage ich schmunzelnd nach und Leo nickt lachend.
Leonora nickt nur: »Krass süß.«
►
Eingepackt in meiner Winterausrüstung bestehend aus Winterjacke, Winterstiefel, Handschuhe, Mütze und Schal stehe ich an der Tower Bridge und lächle vor mich hin.
Inständig hoffe ich, dass Louis hier auftauchen wird und mich herzlich begrüßt. Während ich an ihn denke, merke ich, wie mein Herz einen Takt schneller zu schlagen beginnt und meine Wangen gleichzeitig einen Rotton annehmen.
Ich stehe im Schein einer Laterne und hinter mir findet der Feierabendverkehr statt, doch es stört mich nicht im geringsten.
Louis hat es irgendwie geschafft, dass mein Herz ihm gehört. Hoffentlich werde ich es nicht bereuen. Leider hatte ich bisher immer das Pech gehabt, von so vielen Menschen enttäuscht zu werden. Sogar auch von Menschen, von denen ich es ganz gewiss nicht gedacht hätte.
Doch das Leben steht immer für Überraschungen offen.
»Entschuldigung«, spricht mich jemand an und ich wende meinen Blick zu denjenigen, der mich breit anlächelt. »Erin! Ich habe dich ja schon lange nicht mehr gesehen. Weißt du noch, wer du bist?«
»Klar, weiß ich es«, grinse ich ihn an. »Ian Eastwood.«
»Ganz genau«, grinst er. »Wie geht’s dir?«
»Ganz gut und dir?«, frage ich nach. »Wie ist es bei Urban Dance Camp?«
Erstaunt sieht er mich an: »Das hast du mitbekommen?«
»Meine Cousine Maylea ist total in Tanzvideos vernarrt und sie schickt mir ab und zu Links«, erzähle ich Ian und er nickt. »Und sie guckt sich auch viele Videos an. Zum Beispiel auch noch von Dance Centre Myway und sie liebt Chachi Gonzales.«
»Interessant«, grinst er dann schief und ich lache leise. »Ich war gerade auf den Weg dorthin.«
»Wieso so spät noch?«, frage ich überrascht, während mein Blick kurz zum Big Ben wandert und dann wieder zu ihm.
»Wir treffen uns immer alle dort«, meint er schulternzuckend. »Egal zu welcher Zeit. Wenn du willst, kannst du gerne mal vorbeischauen.«
»Das werde ich auf jeden Fall machen, Ian«, sage ich lächelnd.
Er lächelt ebenfalls. »Dann gehe ich mal weiter. Wir sehen uns, Erin.«
»Tschüss, Ian«, sage ich lächelnd und schaue ihm nach, bis er von der Dunkelheit verschluckt wird.
Es wird allmählich immer später, der Verkehr hat deutlich abgenommen und Louis ist immer noch nicht aufgetaucht.
An Leonora: War Louis bei uns aufgetaucht?
Von Leonora: Nein, sollte er etwa?
Seufzend packe ich mein Handy weg und merke, wie mir mein Herz augenblicklich schwerer wird.
Die Enttäuschung macht sich in mir breit und ich gehe mit gesenkten Kopf in Richtung nach Hause.
Leute enttäuschen Leute, auch wenn man es nicht von ihnen erwartet hätte.
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Tower Bridge
RastgeleVom ersten bis zum einunddreißigsten Dezember war sie an der Tower Bridge. Mal früh, mal spät, mal den ganzen Tag über, mal für ein paar Stunden. Sie hatte einen geregelten Tagesablauf - bis sie ihn kennenlernte. Und mit ihm geschahen Dinge, die sie...