19. Dezember
Heute ist es irgendwie anders. Ich weiß nicht was, aber irgendwie ist irgendetwas anders.
»Hörst du mir zu?«, fragt mich Niall, als ich schon wieder nicht zuhöre.
»Nein«, sage ich wahrheitsgemäß und schaue ihn entschuldigend an. »Was ist?«
»Wer ist sie, wie sieht sie aus, wo trifft ihr euch immer?«, fragt er und grinst wissend.
Perplex sehe ich ihn an: »Was?«
»Du denkst bestimmt über ein Mädchen nach«, meint Niall dann. Durchschaut.
»Ich habe sie vor einem Jahr an der Tower Bridge gesehen«, gestehe ich ihm schließlich. »Ihre Haare sind lang und braun, ihre Augen so schön blau und sie ist so offenherzig.«
»Du klingst ja schon beinahe so, als hättest du dich in sie verknallt«, lacht der Ire und ich verdrehe die Augen.
»Wir haben uns gestritten, irgendwie«, murmle ich und seufze leise. »Weißt du, sie ist - wie schon erwähnt - sehr offen, aber ich hatte bestimmt in einer Wunde herum geborgt und Salz in die offene Wunde gestreut. Irgendetwas muss am 17. Dezember gewesen sein, ansonsten verstehe ich ihre Reaktion nicht.«
»Wie meinst du das?«, fragt Niall nach und ich schaue ihn an.
»Weißt du, Niall, sie ist eine vertrauenswürdige, liebenswerte Person. Wenn du sie siehst, dann kannst du gar nicht anders und schenkst ihr dein Vertrauen, was sie nicht missbrauchen wird«, sage ich etwas in den Gedanken versunken. »Wenn du sie kennen würdest, dann wärst du froh, dass du sie kennst. Ich meine, sie vertraut dir auf einer gewissen Weise auch, aber das, was ihr am meisten bedeutet beziehungsweise wehtut, auch Schwachstelle genannt, verheimlicht sie ihr. Ihre Schwachstelle ist ihr größtes Geheimnis, mal abgesehen davon ist sie wie ein offenes und gleichzeitiges verschlossenes Buch. Es ist schwierig zu erklären. Sie hatte mir von ihren Lieblingskünstlern erzählt, ihr Wissen über die Zeit mit dem Nationalsozialismus in der Zeit, in der Hitler regierte, geteilt, mir Sachen erzählt, wie zum Beispiel über Fanfiction und alles weitere. Sie hatte nicht mal After oder Dark gelesen, also diese Fanfictions über Harry. Ich kenne ihren vollständigen Namen und... weißt du, ihre Schwachstelle muss irgendetwas mit dem 17. Dezember zu tun haben. Sie war total aufgelöst gewesen, als sie am 17. zu unserem Treffpunkt kam - einfach fertig.«
»Weißt du, vielleicht ist irgendetwas bei ihr Zuhause los und sie hatte sich eventuell mit jemanden gestritten«, meint Niall schulternzuckend. »Du darfst nicht immer vom Schlimmsten ausgehen. Es kann sein, dass sie eine kleine Dramatikerin ist und es versucht, irgendwie zu verstecken, damit man nicht glaubt, dass sie völlig durchgeknallt ist. Also, nichts gegen sie. Es ist nur so eine Theorie. Ich kenne dein Mädchen da nicht.«
»Komm schon, Niall. Das Mädchen ist höchsten 16 Jahre alt«, sage ich schmunzelnd und er weitet die Augen.
»Dein Ernst?«, fragt Niall. »Verarscht du mich?«
»Nein, ich schwöre dir. Sie kann nicht älter als 16 Jahre sein«, beteuere ich und muss schmunzeln. Hoffe ich mal, dass ich mit ihrem Alter richtig liege. Im Schätzen bin ich allgemein so gut wie eine Ente. »Vielleicht sollte ich nochmal zu unserem Treffpunkt, sie müsste dort sein. So wie jeden Tag.«
»Wieso jeden Tag?«, fragt Niall verwirrt und sieht auch sehr danach aus.
Ich zucke mit den Schultern: »Ich weiß es nicht, sie sagte, sie wäre vom 1. bis zum 31. Dezember dort. Wusstest du, dass sie Weihnachten mit Bescherung am 24. feiern? Irgendwie ist es in Deutschland so, dass man am 24. und nicht am 25. feiert.«
»Die verrückten Deutschen«, grinst Niall. »Wann hattet ihr euch nochmal gestritten?«
»Gestern«, sage ich und er nickt. »Wieso?«
»Wie seid ihr auseinander gegangen?«, fragt Niall und ich denke an gestern.
»Sie ist weggelaufen.«»Und du Intelligenzbestie ziehst es nicht mal in Erwägung ihr hinterher zu laufen, um Entschuldigung zu bitten oder sonst etwas, nein, Louis muss stehen bleiben und ihr gedankenverloren hinterher starren«, meint Niall schmunzelnd. »Habe ich recht?«
»Nein! Uhm... doch«, sage ich und Niall lacht. »Ich laufe mal los.»Klar, wir sehen uns später«, verabschiedet sich Niall grinsend und geht in der Straße weiter.
Ich dagegen schaue die endlos lange Straße runter, die direkt zur Tower Bridge führt.
Sofort laufe ich los und bete innerlich, dass Erin dort ist, doch das Glück steht nicht auf meiner Seite. Erin ist nicht da. Aber dafür ein anderes Mädchen.
Braune Haare, blaue Augen. Diese Kombination erinnert mich an Erin.
»Hallo«, begrüße ich das Mädchen und sie sieht mich überrascht an.
»Hi?«, antwortet sie, dann weiten sich ihre Augen. »Oh mein Gott, du bist der Typ, über den meine Cousine immer schwärmt.«
»Eine Cousine aus Deutschland, die Fanfictions schreibt und deprimiert ist, da sie glaubt, dass sie mich niemals treffen wird?«, frage ich und sie sieht mich überrascht an. »Wie heißt du?«
»Leonora Marin, schön dich kennenzulernen- an dieser Stelle würde ich deinen Namen sagen, aber ich habe ihn wieder vergessen, obwohl dieser Name mindestens jeden Tag einmal fällt«, stellt sie sich vor und schmunzelt dann.
»Louis Tomlinson«, sage ich und sie nickt. »Du bist Erins Schwester, stimmt es?«
»Du kennst meine Schwester?«, fragt sie überrascht und diesmal bin ich derjenige, der nickt. »Dank ihr höre ich deinen Namen oft. Woher kennst du sie?«
»Wir haben uns vor einem Jahr hier kennengelernt«, sage ich und sie nickt wieder. »Wie war sie gestern drauf, als sie nach Hause kam?«
»Oh, sie hatte wieder ein Buch in der Hand und verschanzte sich - so wie immer - in ihrem dunklem Zimmer, hat aber nichts zu bedeuten, sie war schon immer so«, meint Leonora lächelnd. »Sie war schon immer eine Person für sich. Sie liebt es alleine zu sein, aber sie hasst das Gefühl alleine zu sein. Irgendwie hört sich das echt komisch an.«
Ein helles Lachen lässt die fahrenden Autos hinter uns leiser wirken.
»Erin interessiert sich viel für die Zeit damals, oder?«, frage ich sie und sie schaut mich kurz nachdenklich an. »Juden-«
»Verfolgung und Vernichtung, ja ich weiß. In Geschichte war sie nur in diesem Thema gut«, grinst Leonora. »Alles, was sie von damals erfahren kann, saugt sie fast in sich auf. Um das Thema zu verinnerlichen, liest sie sich auch fast alles durch. Sie ist selten dämlich und wenn doch, dann aber richtig. Ich weiß noch, wo sie 15 oder 16 Jahre war-«
»War?«, frage ich irritiert und Leonora schaut mich grinsend an.
»Sie ist 20 Jahre alt, Louis«, meint sie grinsend. »Wie alt schätzt du mich?«
»17 oder 18...«, sage ich und sie lacht laut auf. »Das war falsch. Okay.«
»Ich bin 23 Jahre alt geworden. Vor 4 Tagen«, sagt sie grinsend. Sie ist nie und nimmer 23 Jahre alt.
»Dann... herzlichen Glückwunsch nachträglich«, sage ich und sie lächelt.
»Danke«, meint sie dann und schaut kurz auf ihr Handy. »Ich muss nach Hause, ich habe Erin heute versprochen, mit ihr zusammen ein tolles Abendessen zu kochen.«
»Kocht nicht eure Mutter?«, frage ich etwas irritiert. Sie schüttelt den Kopf.
»Sie bekommt heute mal eine Auszeit«, meint Leonora mit einem breiten Grinsen im Gesicht. »Erin wird wahrscheinlich um 20:30 Uhr ungefähr wieder hier sein.«
»Ich hätte sie gerne abgefangen, aber ich kann da leider nicht«, grinse ich schief. Na toll. »Ist sie morgen wieder hier?«
»Ja, sie wird hier sein«, sagt sie. »Wir sehen uns.«
Leonora dreht sich um und geht weg. Ich beobachte ihre immer kleiner werdende Silhouette und denke irgendwie wieder an Erin.
Warum lässt sie keinen Tag aus?
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Tower Bridge
De TodoVom ersten bis zum einunddreißigsten Dezember war sie an der Tower Bridge. Mal früh, mal spät, mal den ganzen Tag über, mal für ein paar Stunden. Sie hatte einen geregelten Tagesablauf - bis sie ihn kennenlernte. Und mit ihm geschahen Dinge, die sie...