30. Dezember
Gestern war ich Zuhause geblieben, denn ich wollte einen weiteren Streit umgehen. Erin ist mir wichtig, keine Frage, aber es kann nicht so weitergehen.
Den gestrigen Tag habe ich damit verbracht mit meiner Familie zu skypen, es war schon schlimm, dass ich sie aufgrund des Schneesturms nicht mehr besuchen konnte. Ich hätte mich wahnsinnig gefreut, sie alle wiederzusehen.
Seufzend google ich das Datum, welches mir Erin vor zwei Tagen genannt hatte, und klicke auf das Video, was als erstes kommt. Und es stellt sich als das richtige Video heraus.
Ich lasse das Video kurz laden, bevor ich auf »Start« klicke. Niemals hätte ich damit geahnt, was Erin und ihrer Familie widerfahren war.
Der Nachrichtensprecher Logan Marin steht vor der Kamera und hält das Mikrofon fest in seiner Hand. Er steht an der Tower Bridge, das erkennt man sofort, und hinter ihm sieht man ein Auto... was mal ein Auto war. Denn es sind nur noch die Überreste des Autos. »Ich stehe nun an der Tower Bridge, an der sich vor wenigen Minuten ein Unfall ereignet hatte. Der Mercedes Benz kam allen Anschein nach ins Rutschen, da die Straßen - wie nach zuvor - immer noch spiegelglatt sind, und fuhr auf die Gegenstrecke, auf der sich in dem Moment ein Audi befand. Der Fahrer des Mercedes Benz' erlag seinen schweren Verletzung noch vor Ort. Man versucht die Fahrerin des Audis immer noch aus dem Auto zu bergen, doch es erweist-«, Logan Marin wird unterbrochen, als lautes Gebrüll zu hören ist. Der Nachrichtensprecher dreht sich um und sieht, dass eine Trage vom Krankenwagen zum zerstörten Audi getragen wird. Logan läuft schnell hinterher und beobachtet die Fahrerin, die auf die Trage gelegt wird. Plötzlich geht alles ganz schnell. Die Beine von Logan Marin sacken unter ihm weg, als er das Gesicht der Fahrerin sieht und er schaut geschockt in die Kamera. Leute des Teams laufen auf ihn zu, versuchen ihm aufzuhelfen. Doch sein Blick gilt nur der Trage, auf der die junge Frau liegt.
Schluckend blinzle ich mehrmals und realisiere, was ich soeben gesehen habe. Es wird ein Link im Video gezeigt, was ein zweiter Teil sein soll und ich klicke darauf, um das nächste Video gesehen.
»Vor drei Tagen trug sich an der Tower Bridge ein tragischer Unfall zu«, sagt die blonde Nachrichtensprecherin Bonnie McBennett. »Es stellte sich heraus, dass es sich um Ella Marin handelte - die Frau meines Kollegen Logan Marin. Seine Frau lag für zwei Tage im Koma, erwachte allerdings mit einem Gedächtnisverlust. Die Frau sprach von Angstzustände und bat Krankenschwestern, ihren Mann aus dem Zimmer zu geleiten. Logan Marin stellte seine Frau vor die Entscheidung; entweder sie versucht ein Leben mit ihm und ihren vier Kindern, bei den der Jüngste gerade mal 10 Jahre alt ist, zu leben oder er lässt sich freiwillig von ihr scheiden, damit sie ein neues Leben starten kann, ohne Verpflichtungen. Ella Marin nahm das Angebot sofort an und startete ein Leben ohne ihre Kinder und ihren Mann. Wir bewundern Logan Marin für seine Tat, Sie haben ein großes Herz.«
Ich fahre mir durch die Haare. Ist das deren Ernst? Dieser Unfall war für Wochen in den Nachrichten, aber ich habe diesem Unfall nie wirklich viel Beachtung geschenkt, vor allem, es war 2008.
Sofort klappe ich meinen Laptop zu, schnappe mir meine Jacke und ziehe mir Schuhe an, ehe ich das große Haus verlasse und zur Tower Bridge laufe.
Völlig außer Atem komme ich an und sehe Erin, wie sie am Geländer steht und in die Themse starrt. Sie sieht beinahe so aus, als wäre all das Leben aus ihr gewichen.
»Erin«, sage ich und sie schaut mich an, ohne eine Emotion zu zeigen. »I-Ich hatte keine Ahnung.«
»Ist nicht mehr wichtig, Louis«, sagt sie leise. Ihre Stimme klingt weinerlich. »Es sind 6 Jahre her.«
»Und trotzdem sitzt das Ereignis tief in dir fest und hast keine Ahnung, wie du über diese Tatsache hinwegsehen kannst«, sage ich und plötzlich fällt ihre emotionslose Maske. Ihre Augen füllen sich augenblicklich mit Tränen und sie schüttelt den Kopf. »Doch Erin, ich sehe es doch. Dir drückt das Geschehnis immer noch im Magen herum, du hast es nicht richtig verarbeitet.«
»Weißt du, wie schlimm es für mich ist, dass meine Bezugsperson auf einmal nicht mehr weiß, wer ich bin? Sie weiß es bis heute immer noch nicht. Klar, sie weiß, wie ich heiße, und dennoch hat sie keine Ahnung«, sagt sie und die erste Träne läuft aus ihrem Auge geradewegs die Wange hinunter. »Sie war von dem einen Moment auf den Anderen weg. Auf einmal war ich ein Scheidungskind. Meine Mutter wusste nicht mehr, wer ich war. Sie hatte Angst. Sie wollte mir nicht ins Gesicht blicken, sie wollte niemanden sehen. Sie hatte sich unter der Decke versteckt und bat uns flehend darum zu verschwinden, sie alleine zu lassen, etc. Sie wurde mir einfach genommen... ich war gerade doch erst 12 Jahre alt. Weißt du was das Schlimmste ist? Nein? Sie war auf den Weg mich abzuholen. Ich wartete und wartete, bis Liam kam und mich abholte. Der Schock war ihm ins Gesicht geschrieben und er fuhr ohne ein Wort zum Krankenhaus. Ich sah meinen Vater davor stehen, seine Augen schienen leer, als wäre das Wichtigste aus seinem Leben genommen worden sein. Und weißt du warum? Weil ihm das Wichtigste genommen wurde. Meine Mutter hatte die Brücke geliebt, es war ihr Lieblingsort und sie liebte den Dezember. Sie liebte Schnee und alles weitere, sie liebte Weihnachten und pflegte die deutsche Traditionen, die sie von ihrem Zuhause aus noch kannte. Ausgerechnet in ihrem Lieblingsmonat an ihrem Lieblingsort wurde sie in einem Unfall verwickelt und so wurde mir meine Mutter genommen. Es ist meine Schuld.«
Mittlerweile laufen unzählige Tränen ihre Wangen hinunter, sie schluchzt immer wieder unkontrollierbar und ihre Stimme überschlägt sich, während sie spricht.
»Nein, Erin, nicht doch«, sage ich und nehme ihr Gesicht zwischen meine Hände. »Hör auf zu weinen... bitte...«
Sie schüttelt den Kopf, weint weiterhin und ich lege meine Arme um sie, um sie ganz fest zu umarmen. Sofort erwidert sie meine Umarmung und weint stumm an meiner Brust weiter.
Immer wieder streiche ich ihr beruhigend über den Rücken und murmle ihr beruhigende Sachen ins Ohr, doch beruhigen will sie sich anscheinend nicht. Hätte ich doch nur 'ne Ahnung gehabt.
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Tower Bridge
RandomVom ersten bis zum einunddreißigsten Dezember war sie an der Tower Bridge. Mal früh, mal spät, mal den ganzen Tag über, mal für ein paar Stunden. Sie hatte einen geregelten Tagesablauf - bis sie ihn kennenlernte. Und mit ihm geschahen Dinge, die sie...