Kapitel 29 - Die Härte des Verlustes

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Wie hinter einem Schleier erspähte Gavin, dass der unbekannte Mann davonrannte, über den Zaun des Innenhofs kletterte und zwischen den Schatten der Häuserfronten verschwand. Seine Dienstwaffe hatte er achtlos weggeworfen, die zwischen ein paar Müllsäcken und Containern gelandet war.

Gavin drehte mechanisch den Kopf und erblickte Nines, der direkt vor ihm lehnte. Er hatte ihn zuvor am Handgelenk gepackt, auf die Füße gezerrt und an die Hausfassade gedonnert. Der Android lehnte mit gesenktem Haupt schützend vor dem Detective. Langsam hob der Dunkelhaarige die Hand und glitt mit den Fingern über seine Wange. Geistesabwesend betrachtete er seine Fingerkuppen. Er hatte sich geirrt. Es war nicht sein eigenes Blut gewesen, dass ihm entgegengespritzt war – es war Thirium.

Seine Fingerkuppen waren blau von der klebrigen Masse, die er zwischen den Fingern verrieb. Nines hatte ihn vor dem Schuss abgeschirmt. Kurz vergewisserte sich Gavin wo die Kugel seinen Partner erwischt hatte. Glücklicherweise war es lediglich ein Streifschuss an der Schulter, sodass Reed bedenkliche Schäden ausschloss.

Ihm wurde in Erinnerung gerufen, dass der Mann dadurch hatte flüchten können und sofort erfasste ihn kalter Jähzorn, als er folglich an Estefano dachte. Aus purer Gefühlsregung stieß er Nines grob weg. Der Android stolperte überrascht zurück und sah seinen Partner verdutzt an.

„Gottverdammt!", stieß Gavin erbost aus. „Deinetwegen ist er entkommen!", warf er seinem Partner rigoros vor.

Nines blinzelte überrascht, denn er traute seinen Ohren kaum. Eine derartig harsche Undankbarkeit hatte er selbst von Gavin Reed nicht erwartet. Die rabiate und übertriebene Reaktion seines Partners erwischte ihn daher kalt.

„Wie bitte?"

„Ich hatte ihn fast!", ereiferte sich Reed weiterhin ungehalten.

„Meinetwegen lebst du noch!", stellte Nines klar, der nun ebenfalls die Stimme hob, denn das musste er sich nicht bieten lassen.

„Argh!", stieß Detective Reed einen Frustrationsschrei aus und kickte einen Müllsack weg.

Er war so verdammt wütend, dass er am liebsten irgendetwas kurz und klein schlagen würde.

„Gavin! Ich weiß, du bist frustriert und das verstehe ich", versuchte es Nines mit Vernunft und Verständnis. „Aber wir müssen-"

„Wir müssen gar nichts, Nines!", geiferte Reed außer sich und hängte abweisend an: „Du kannst nach Hause gehen. Ich gehe zurück und schaue, ob ich Hinweise finden kann."

„Gavin!", erwiderte Nines streng mit einem Hauch Verzweiflung und Flehen. „Sei vernünftig. Du hast eine Platzwunde, diese muss versorgt werden. Lass die Spurensicherung vorerst übernehmen."

Der Dunkelhaarige griff sich prüfend an die Schläfe. Tatsächlich fühlte er etwas Warmes und als er sich die Finger betrachtete waren sie rot verfärbt. Er zischte leicht despektierlich, weil er sich nun wieder dem Schmerz entsann und dass sein Schädel fürchterlich pochte. Diese Tatsache hatte er bis eben vergessen - bis Nines ihn daran erinnerte, dass sein Dickschädel nähere Bekanntschaft mit einer Eisenstange gemacht hatte.

„Schwachsinn!", blieb Reed stur. „Ich gehe in keine verdammte Notaufnahme. Das ist gar nichts. Und ich lass nicht zu, dass diese Stümper von der Spurensicherung Hinweise übersehen oder gar ruinieren!"

Reeds ausgesprochene Beharrlichkeit war einerseits sehr bemerkenswert, aber derzeit war es ausschließlich zum Leidwesen von Nines.

„Das da, ist definitiv nicht nur eine Kleinigkeit!", versuchte er seinem Partner vor Augen zu führen und deutete auf die Platzwunde, dessen Blut sich in breiten Rinnsalen entlang seiner rechten Gesichtshälfte bahnte und teils seine Locken verklebte.

Reed900: What it meant to be Human || A Detroit: Become Human StoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt