37. Von Onkel zu Nichte

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Nachdenklich zurrte Ismira die letzten Gurte an Anaries Sattel fest. Obwohl es früher Morgen war hatte sich praktisch ganz Emfielion vor der weißen Zitadelle versammelt, um den Abflug der Drachen zu verfolgen.
Es waren zwei Tage vergangen seitdem Ismiras Mitschüler Cale erfahren hatte, dass er mit Fürst Däthedr verwandt war. Der Elf hatte sich nicht mehr in die Nähe der Drachenreiter gewagt. Ein Bote hatte Cale lediglich den Dolch überbracht, den der Elfenfürst ganz in Gedanken mitgenommen hatte als er das Quartier von Eragon und Arya verließ. Eine Nachricht war nicht dabei gewesen. Auf Nachfrage hin hatte man den beiden Schülern des Reiterordens erklärt, dass sich Fürst Däthedr von Fürstin Neferta verabschiedet hatte und angekündigt hatte sich für eine Weile von den elfischen Siedlungen fernzuhalten. Er suchte die Einsamkeit des Waldes um zu meditieren.
Viele Angehörige des schönen Volkes zogen sich von Zeit zu Zeit von den Heimstätten ihres Volkes zurück, um ihre Gedanken zu ordnen. Das eine Persönlichkeit wie Däthedr es tat war nichts Ungewöhnliches für die Allgemeinheit. Cale vermutete jedoch, dass ein entfernter Verwandter insbesondere seine Gedanken zu einem bestimmten Thema ordnen musste.
Ismira hatte versucht ihn zu überzeugen, dass die Rückgabe des Dolches ein gutes Zeichen war. Eine Geste, dass der Elf anerkannte, dass diese Waffe das rechtmäßige Erbe seines jungen Verwandten war.
Der hatte daraufhin beschlossen einfach abzuwarten und dem Fürsten den nächsten Schritt zu überlassen.
Im Augenblick war es auch nicht ihr Mitschüler der Ismiras Gedanken mit Sorgen füllte. Seit ihrem Gespräch in der jungen Frau die Idee, ihren Großvater zu besuchen nicht mehr aus dem Kopf. Sie wusste praktisch nichts über den Mann namens Sloan. Ihre Eltern hatten nicht oft über ihn gesprochen. Auch die Dorfbewohner von Carvahall schien das Thema eher vermeiden zu wollen. Meistens breitete sich eine unangenehme Stille aus, wenn jemand auf dem Vater von Gräfin Katrina zu sprechen kam. Alles in allem schien die Gemeinschaft den Mann, der sie verraten hatte einfach vergessen zu wollen. Katrina und ihre Tochter beurteilte man zum Glück nicht nach Sloans Vorbild.
Ismira war zu dem Ergebnis gekommen, dass sie selbst mehr über ihre lange verstorbene Großmutter und Namensgeberin wusste als über den Vater ihrer Mutter.
Die Frage, die sich ihr natürlich stellte war: Wollte sie überhaupt mehr wissen? Die wenigen Fakten, die sie kannte, waren nicht besonders schmeichelhaft. Sprachen diese Fakten nicht sogar für sich? Sloan hatte die gesamte Dorfgemeinschaft an die Ra'zac verraten. Er hatte mit diesen Kreaturen Geschäfte gemacht.
Seitdem Shruikan vor Jahren vom jungen Orden der Reiter besiegt worden war, hatte man weder von den Letherblaka noch ihren unheimlichen Larven viel gehört. Manchmal berichteten Söldner der Urgals, welche Handelskarawanen begleiteten, dass Mitglieder der Karawane, die sich nachts entfernt hatten, um beispielsweise einem "Bedürfnis" nachzugehen, am nächsten Morgen nicht mehr aufzufinden waren. Manchmal entdeckte man Spuren eines Kampfes und konnte nur vermuten, dass die unglückliche Seele Opfer der unheimlichen Jäger von Menschenfleisch geworden war.
Ismira hatte noch nie in ihrem Leben mehr von den Kreaturen der Nacht gesehen als Bilder in Büchern die sich mit ihnen beschäftigten. Sie konnte auch gut und gerne auf einen intensiveren Kontakt verzichten. Das wenige, was Sie über diese unheimlichen Wesen wusste war mehr als Grund genug am Verstand von jedem zu zweifeln, der sich mit ihnen freiwillig einließ.
"Na, bist Du bereit zum Aufbruch?"
Ismira erschrak etwas als Eragon sie ansprach. Sie war so tief in Gedanken versunken gewesen, dass sie ihren Onkel, der zu ihr getreten war, gar nicht bemerkte.
"Ja, sofort Onkel. Oder muss ich Dich jetzt immer Meister nennen?"
Eragon schmunzelte zu Ismiras Erleichterung und tat anschließend so als ob er sich verschwörerisches umblicken würde.
"Nur bei öffentlichen Anlässen. Da müssen wir aufs Protokoll achten. Aber ich denke, im Moment ist Onkel angemessener."
Mit diesen Worten legte Eragon den Arm um seine Nichte. Ismira ließ sich von ihrem Onkel zu einer der steinernen Bänke führen, die überall in der Grünanlage vor der weißen Zitadelle verteilt standen.
"Jemand, dem Du sehr viel bedeutest, meinte Du brauchtest jemanden zum Reden."
"So.", sagte Ismira spitz und bemühte sich um Blickkontakt zu ihrer Drachendame. Anarie schien allerdings plötzlich ein verdächtig hohes Interesse daran zu haben ihre Flügel zurecht zu zupfen. "Und ich nehme an, Sie meint, dass Du genau der richtige wärst."
Ihr Onkel zuckte übertrieben mit den Schultern und wartete ab.
Ismira suchte einen Augenblick nach den richtigen Worten. Sie konnte sich gut vorstellen, warum Anarie Eragon um Hilfe gebeten hatte. Ihr Onkel war schließlich das einzige Mitglied der Reisegruppe, dass persönliche Erfahrungen mit dem Metzger Sloan hatte. Ismira hoffte nur, dass sie ihren Onkel nicht verärgern würde, indem sie nach ihrem Großvater fragte.
"In den zurückliegenden Tagen haben wir alle uns große Gedanken um Familienangehörige und Probleme innerhalb von Familien gemacht, Onkel Eragon. Auch in unserer Familie gibt es ja mindestens ein schwarzes Schaf."
"Ich hoffe Du meinst nicht Deinen Onkel Murtagh?"
"Nein Nein!" wehrte Ismira heftig ab. Zwar kannte sie ihrem zweiten Onkel nicht annähernd so gut wie sie es sich gewünscht hätte aber mit Sicherheit betrachtete sie ihn nicht als schwarzes Schaf.
"Dann kann ich mir schon denken, um wen es geht."
Es machte Ismira das Weitersprechen nicht eben einfacher, als sie den Schatten bemerkte, der über die Züge ihres Onkels fiel.
"Ich denke an meinen Großvater." räumte die junge Reiterin ein. "Wir machen uns nun auf den Weg nach Ellesméra. Er lebt ja wohl in der Nähe der Stadt."
"Du möchtest ihn besuchen?" erkundigte sich Eragon.
"Ich denke darüber nach."
Ismira beobachtete ihren Onkel eine Weile. Der Blick des älteren Drachenreiters lief ins Leere. Er schien seinen Gedanken nachzuhängen.
"Du hältst es nicht für eine gute Idee, oder?" bohrte die junge Frau schließlich weiter.
"Nein, nicht wirklich."
Der bittere Tonfall den Eragon anschlug überraschte Ismira. Sie hatte ihren Onkel als wesentlich offenherziger kennengelernt.
Saphiras Reiter hatte sich erhoben und begann vor seiner Nichte auf und abzugehen.
"Was versprichst Du Dir davon?"
Etwas hilflos zuckte Ismira mit den Schultern.
"Das habe ich befürchtet.", brummte Eragon. Plötzlich hob der Anführer der Reiter den Kopf als hätte er etwas gehört. Ismira begriff schnell was vor sich ging als sie sah, dass Ihr Onkel direkten Blickkontakt mit seiner Drachendame Saphira aufgenommen hatte. Offenbar war sie nicht die einzige, die Ratschläge bekam.
Sie junge Reiterin konnte beobachten wie sich die Züge ihres Onkels etwas entspannten. Schließlich setzte er sich wieder neben seiner Nichte auf die steinerne Bank, schwieg aber.
"Drachen sind gut darin einen den Kopf zu waschen, oder?" erkundigte sich Ismira schließlich.
"Ach, hast Du das also auch schon bemerkt."
Gleichzeitig begann Onkel und Nichte zu lachen. Als sich beide wieder beruhigt hatten, setzte Ismira zu einer neuen Erklärung an: "Ich weiß nicht, was ich mir davon erwarte Onkel aber es erscheint mir einfach richtig. Im Moment weiß ich nicht was ich über den Vater meiner Mutter denken soll. Sicher ich kenne die Geschichten über ihn und weiß, was er getan hat aber es erscheint mir ungerecht mir ein Urteil zu bilden, ohne ihm die Gelegenheit zu geben sich zu erklären. Ich bin unsterblich seit Anarie mit mir verbunden ist aber wer weiß wie lange ich noch Zeit habe, um meine Fragen zu stellen. Wenn der Moment verpasst ist, werde ich die Jahrhunderte ohne die Antworten verbringen müssen, die mir wichtig erscheinen."
Unsicher suchte Ismira auf dem Gesicht ihres Onkels nach Zeichen von Wut oder Ärger. Stattdessen lächelte dieser und legte den Arm um sie.
"Ismira Katrinatochter, ich denke, Du wirst mal eine sehr gute Reiterin werden."
Überrascht vom Kompliment ihres Onkels spürte die junge Frau wie Ihr Blut in die Wangen schoss. Eragon indes sprach weiter: "Es ist sehr weise von Dir, dass Du Dir kein Urteil bilden willst, ohne alle Fakten zu kennen. Und ich denke Du bist alt genug, um Deine eigenen Entscheidungen in dieser Sache zu treffen. Sobald wir in Ellesméra sind, werde ich Dir den Weg beschreiben der zu Sloans Unterkunft führt. Ich bitte Dich nur das Anarie Dich begleitet. Ich denke nicht, dass Dein Großvater gefährlich ist aber mir wäre wohler, wenn ich wüsste, dass Du nicht allein bist. Eine Warnung möchte ich die aber noch mit auf den Weg geben: Setzt Deine Hoffnungen nicht zu hoch an. Du musst wissen, dass ich einen Zauber über Sloan gewirkt habe, der mich benachrichtigt, hätte dem sich sein wahrer Name gewandelt hätte seitdem ich ihn verbannt habe. Wäre ihm das gelungen, wäre der Schwur in der alten Sprache, der ihn von Roran und Katrina fernhält nämlich unwirksam geworden. Ob ich den Schwur erneuert hätte kann ich nicht genau sagen. Es wäre wohl abhängig von den Veränderungen gewesen, die ich bei Sloan festgestellt hätte. Fakt ist aber, dass er sich nicht geändert hat. Er ist noch derselbe, wie der den ich vom Helgrind gerettet habe. Damals dachte er nicht daran sich für das zu entschuldigen, was er getan hat. Er hat mich beleidigt, Roran beleidigt und fühlte sich in seinem Handeln völlig gerechtfertigt."
"Und Du denkst, dass das immer noch der Fall ist."
Wie von Ismira erwartet nickte Eragon.
"Weißt Du Ismira, ich habe schon sehr viel mehr erlebt und gesehen als mein Alter verrät. Damit meine ich nicht nur den Krieg gegen Galbatorix und meine Zeit bei den Varden. Mir ist sehr altes Wissen anvertraut worden. Die Quelle kann ich Dir im Moment noch nicht nennen aber das ist auch im Moment nicht wichtig. Worauf ich eigentlich hinaus will ist, dass es sehr schwierig ist Dein Großvater einzuordnen. Er hat durchaus gute Seiten aber alles wird überlagert von seiner festen Überzeugung, dass er weiß was am besten ist und nur er. Ich habe es noch nie erlebt, dass es jemandem gelungen wäre ihn von seinem Standpunkt abzubringen. In ihm zeigt sich, dass man Menschen nicht einfach in gut oder böse unterteilen kann. Die meisten von uns sind weder schwarz noch weiß. Sie sind einfach grau. Es hängt ganz von unserem Standpunkt ab ob so jemand ein Schurke, Opfer oder sogar Held ist."
Mit diesen Worten beendete Eragon das Gespräch und kehrte zu Saphira zurück. Auch Ismira zog sich auf Anaries Rücken. Sie spürte wie der Geist der violetten Drachendame ihren streifte, anschließend schnaubte ihre Seelenpartnerin etwas ungehalten.
- "Du grübelst ja immer noch. Ich hatte gehofft, dass Dein Onkel Deinen Rotschopf etwas durchlüften würde! Stattdessen ist die Wolkendecke jetzt noch undurchdringlicher." -
Ismira konnte ein Kichern ob des Vergleichs ihrer Drachendame nicht unterdrücken. Sie genoss das Gefühl, dass sich in ihrer Magengrube ausbreitete, als die violette Drachendame sich vom Boden abstieß und ihren Artgenossen in den Himmel folgte.
- "Schon besser." - summte Anarie zufrieden als sie die Freude ihrer Reiterin spürte.
- "Keine Sorge meine Süße. Meine Unterhaltung mit meinem Onkel hat mir geholfen. So sehr, dass ich fast nicht wütend auf Dich bin, dass Du ihn mir auf den Hals gehetzt hast." -
Mit einem versonnenem Brummen schüttelte Anarie Ihr kräftiges Haupt. Ismira fuhr fort: - "Mir ist eben nur klar geworden, dass mir keine leichte Unterhaltung bevorsteht. Ganz gleich wie sich die Sache auch immer entwickelt." -
- "Ganz gleich wie sich die Sache auch immer entwickelt Rotschopf, ich hab Dich lieb." -
Dankbar für die Zuneigung ihrer Seelenschwester kraulte Ismira Anarie den Hals und schob ihre trüben Gedanken zunächst beiseite. Die Begegnung mit ihrem Großvater würde erst in Ellesméra auf sie warten. Jetzt lag erstmal der längste und sicherlich herrlichste Flug vor Ihr, den sie je unternommen hatte.


1890 Wörter

Eragon Band 6 - Die Wege der ReiterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt