49. Unterschiedliche Wurzeln

53 8 2
                                    

Nachdem er eine Weile an dem Stück Holz herum geschnitzt hatte, war Cale der Tätigkeit überdrüssig geworden. Normalerweise half ihm das gleichmäßige auf und ab der Klinge beim abschälen der einzelnen Schichten des Holzes dabei seine Gedanken zu beruhigen. Heute jedoch wollte das nicht so recht gelingen.
Gedankenverloren hatte der junge Mann sich einen Platz auf einer Wiese etwas abseits von Graf Rorans Gut gesucht und starte nun, an einem Grashalm kauend, in den Himmel. Er ließ noch einmal alles an sich vorbeiziehen, was er erlebt hatte seitdem Tailon bei ihm geschlüpft war. Manches kam ihm vor wie ein Märchen. Er, der kleine Buchbindersohn, hatte die Hauptstadt der Elfen besucht und ihren König und die Königin kennengelernt. Hätte er nicht sein neues Schwert als Beweis, er wäre eher bereit gewesen zu glauben, dass er eine Halluzination gehabt hatte. Ebenso verrückt erschien ihm die Tatsache, dass er selbst elfisches Blut in den Adern hatte und der Nachfahre einer Drachenreiterin war. Wie unendlich weit entfernt schienen die Zeiten zu sein, in denen er sich um nichts anderes sorgen musste als den Rübenacker seines Onkels. Eine spezielle Erinnerung jedoch drängte sich immer wieder in seine Gedanken. Es war die Erinnerung wie er Ismira zum ersten Mal im Gastraum der Herberge in Gil'ead gesehen hatte. Damals kannte er nicht mal ihren Namen. Die wenigen Stufen, die die Tische des Adels, von denen des gemeinen Volkes trennten, schienen damals so unüberwindlich zu sein wie die Gipfel des Beor-Gebirges. Vermutlich hätte die Magd, die Ismira damals begleitet hatte ihn aus der Herberge, wenn nicht sogar in den Kerker werfen lassen, hätte er es auch nur gewagt ihre Herrin anzusprechen. Cale musste sich eingestehen, dass dieser Gedanke schon damals für ihn verlockend gewesen war.
Natürlich nicht in den Kerker geworfen zu werden aber die schöne unbekannte Dame anzusprechen war eine Versuchung gewesen. Er schloss die Augen und hielt die Erinnerung einen Moment fest. Das elegante Kleid aus Grün-Blau schimmernder Seide welches würdevoll die Figur seiner Trägerin betonte, der blaue Reiseumhang, den sie um die Schultern trug und ihre seidigen kupferfarbenen Haare.
Für den Buchbindersohn von damals war dieses engelsgleiche Wesen einfach ein unerreichbarer Traum gewesen.
Dann hatte sich sein ganzes Leben verändert. Nicht nur hatte er am darauf folgenden Tag die Gelegenheit bekommen mit der schönen Unbekannten zu sprechen, sondern auch ein Drache war bei ihm geschlüpft. Das hatte alles verändert. Nun unterhielt er sich fast jeden Tag mit Ismira und hatte sie inzwischen sehr gut kennengelernt. Ihr Wesen war mindestens so anziehend wie ihr Äußeres. Ihre Lebenslust und Neugier riss Cale jedes Mal aufs neue mit. Nicht selten war sie es gewesen, die ihn aus der Reserve geholt hatte und dazu veranlasst hatte Grenzen zu durchbrechen, die er vorher als unmöglich eingestuft hatte.
Cale konnte absolut nicht begreifen wie man den Charakter seiner Mitschülerin ablehnen konnte. Ihm schlichen sich die Worte des jungen Herzogs Tjurin ins Gedächtnis. Was sollte das denn bitte für eine Frau sein wie dieser eingebildete Jüngling sich wünschte. Eine geistlose Kleiderpuppe die zu allem ja sagte?
Wie man es auch drehte und wendete, dieser junge Herzog verkannte völlig den Wert, den Ismira seiner Meinung nach besaß.
Der junge Mann erhob sich nun von der Wiese und schlenderte langsam und gemächlich in Richtung des Dorfes Carvahall. Dorf war eigentlich nicht mehr die richtige Bezeichnung. Die ehemalige Siedlung war nun eine kleine Stadt. Den harten Kern bildeten natürlich immer noch die Menschen von denen Cale bereits aus Ismiras Erzählungen erfahren hatte. Er entdeckte die Werkstatt des Schmieds Horst, von dem die Mitschülerin des jungen Reiters ausführlich berichtet hatte und entdeckte auch die berühmte Gerberei wo das Leder Saphiras ersten Sattel hergestellt worden war.
Im Ort selbst herrschte geschäftiges Treiben. Graf Roran und Gräfin Katrina hatten für den Abend ein kleines Fest geplant, um die Ankunft der Drachenreiter zu feiern. Ein Umstand, der leichtes Unwohlsein bei Cale auslöste. Er war noch nie ein Ehrengast gewesen. Außer vielleicht unter den Elfen, doch ohne das schöne Volk beleidigen zu wollen: Die Elfen waren eben etwas anders.

Seit Cale nun die Heimat der jungen Gräfin gesehen hatte konnte er auch verstehen, warum sie ein so herzliches und offenes Wesen entwickelt hatte. Zum einen waren da natürlich ihre Eltern. Graf Roran und Gräfin Katrina machten einen völlig anderen Eindruck auf Cale als der übrige Adel es bisher getan hatte. Selbst die hochgeborenen Vertreter, die Cale noch als recht umgänglich einstufte, wirkten hochnäsig im Vergleich zur Herrschaft des Palancartals. Graf Roran verstand einfach was es bedeutete sich seinen Lebensunterhalt mit der eigenen Handarbeit verdienen zu müssen. Die Warmherzigkeit seiner Gemahlin besorgte das Übrige. Und anders als beispielsweise Herzog Aurast war es der gräflichen Familie hier gelungen das Verständnis und das Mitgefühl auch an die nächste Generation weiterzuleiten.
Es waren aber nicht nur die Eltern, sondern auch die Umgebung in der Ismira und ihre Brüder aufwuchsen die so einzigartige Charaktere geschaffen hatte. Obwohl das Dorf Carvahall bedeutend gewachsen war, spürte man überall eine große Wärme und Herzlichkeit. Immer wieder schallten fröhliche Begrüßungen und warmherziges Gelächter durch die Straßen. Ein Umstand, der sicher nicht nur an der bevorstehenden Festlichkeit lag. Cale erinnerte sich an sein eigenes Heimatdorf und musste sich eingestehen, dass es ein nicht annähernd so angenehmer Ort war. Vielleicht lag es daran, dass Carvahall den eisernen Griff des Imperiums nie so hart zu spüren bekommen hatte wie andere Dörfer.
Cales ehemalige Heimat lag fast im Schatten der Stadtmauern von Gil'ead. Galbatorix hatte stets Gerüchte über die grausamen Elfen streuen lassen, die im Norden lebten und vor denen er sein Volk beschützen könnte. Das hatte dazu geführt, dass der Ort wesentlich verschlossener geworden war als Carvahall. Hier sah man eine echte Gemeinschaft. In Cales Heimat Isencroft schien jedes Haus eine kleine Festung zu sein. Das Leben spielte sich nur hinter sorgfältig verschlossenen Türen ab, die die Bewohner nur sehr ungern öffneten.
Natürlich hatten auch Galbatorix Soldaten ihren Teil dazu beigetragen die Bewohner des Ortes misstrauisch und zurückgezogen werden zu lassen. Gil'ead war eine der wichtigsten Garnisonsstädte des Imperiums gewesen. Der harte Kern von Galbatorix Männern war dort stationiert gewesen. Lange Zeit hatte die Festung unter der Herrschaft des Schattens Durza gestanden. Dieser war nicht unbedingt ein wohlwollender Stadthalter gewesen und daher hatten es die Männer der Armee vorgezogen ihren Sold außerhalb von Gil'ead zu verpassen. Isencroft war eine beliebte Anlaufstelle gewesen. Bis heute besaß der Ort vier Gasthäuser. Für die Soldaten war die Benutzung der Fähre umsonst gewesen und daher hatten sie das Dorf gern besucht und im Rausch so manchen groben Spaß mit den Bewohnern getrieben. An den Tagen, an denen sie mit gut gefüllter Börse in den Ort einfielen, konnte man nur selten Frauen oder Mädchen auf der Straße sehen. Die weiblichen Mitglieder der Dorfgemeinschaft verbargen sich in ihren Häusern und auch die Männer verließen das Heim nur, wenn es absolut notwendig war. Erwischten die Soldaten einen Mann nämlich auf der Straße wurde er oft Ziel ihres Spotts und nicht selten zwangen sie ihn die "geehrten Mitglieder der königlichen Armee" in sein Haus einzuladen. Über das, was dann über die unglückliche Familie hereinbrach wurde in Isencroft nur hinter vorgehaltener Hand geredet. Zwar hatte es zu Galbatorix Zeiten etwas außerhalb der Stadt Häuser gegeben in denen "Damen" mit einem gewissen Ruf ihrer zweifelhaften Tätigkeit nachgingen aber die Soldaten des Königs mussten schon sehr betrunken sein, um diese Frauen noch anziehend zu finden.
Es bestand kein Zweifel daran, dass Carvahall ein wesentlich angenehmer Ort zum Leben war als Cales Heimat an den Ufern des Isenstar.
Das Rauschen von Drachenschwingen ließ den jungen Reiter schließlich aufblicken. Auch die Dorfbewohner musterten interessiert den dunkelroten Drachen, der über ihren Häusern seine Bahnen zog.
- "Cale? Bist Du irgendwo da unten?" -
- "Ja, hier!" -
Der junge Reiter schickte seinem Seelenbruder Tailon ein Bild von seinem Standort.
- "Wir treffen uns vor dem Dorf." - ließ sich die aufgeregte Stimme des Jungdrachen wieder vernehmen. Großmutter hat mir und Anarie etwas gezeigt was Du unbedingt sehen musst." -
Während sich Cale bereits auf dem Weg zu dem Treffpunkt machte den Tailon ihn genannt hatte fiel ihm etwas ein.
- "Wir müssen noch Deinen Sattel holen." -
- "Den habe ich schon bei mir." - erwiderte der junge Rote. - "Meister Eragon war so nett ihn mir anzulegen." -
Tatsächlich erwartete Tailon seinen Reiter fertig gesattelt etwas außerhalb des Dorfes. Der junge Drache war so aufgeregt, dass er Cale kaum Gelegenheit gab die Beinriemen festzuziehen bevor er sich wieder in den Himmel erhob und mit kräftigen Flügelschlägen Richtung Süden strebte.
- "Was gibt es denn so interessantes zu sehen?" -
- "Abwarten!" - war die einzige Antwort, die Cale erhielt.
Unablässig strebte Tailon weiter nach Süden. Der Flug dauerte bereits zwanzig Minuten als schließlich ein gewaltiger Berg in Sicht kam.
- "Das ist der Utgard." - erklärte Tailon. - "Siehst Du den Spitzturm dort oben? Weißt Du, was das für ein Ort ist?" -
Cale bestätigte stumm. Er wusste genau, was dasfür eine kleine Festung war. Hier hatte vor 100 Jahren die Dunkelheit über das Licht gesiegt und Alagaësia war für lange Zeit in Finsternis versunken. Hier hatte Galbatorix Vrael getötet den letzten Anführer des alten Ordens.
Tailon kreiste nun um den Gipfel des Berges und Reiter und Drache betrachteten Sturm die Überreste der einst so mächtigen Festung.
- "Ob unser Orden auch mal so groß und mächtig wird, dass er solche Bauten errichtet?" - erkundigte sich Cale nach einer Weile.
- "Bestimmt!" - gab Tailon voller Zuversicht zurück. - "Wir werden das vielleicht sogar erleben. Denk daran, Du bist nicht mehr so kurzlebig wie andere Menschen. Vor diesem Hintergrund ist es vielleicht gar nicht schlecht, dass Du Dein Herz nicht an ein normales Weibchen Deines Volkes verloren hast, sondern an eine andere Drachenreiterin." -
Die letzten Worte des roten Drachens hatten sehr schelmisch geklungen und obwohl Cale genau wusste, wovon Tailon sprach erkundigte er sich: - "Was meinst Du denn damit?" -
- "Als ob Du das nicht genau wüsstest." - antwortete Tailon. - "Wir beide wissen wie sehr Du Ismira magst. Deshalb fliegen wir jetzt auch zurück damit wir nicht zu spät zum Fest kommen. Du wirst Dein Herzdame nämlich um einen Tanz bitten. Und solltest Du das nicht tun, solltest Du davon ausgehen, dass ich Dich ein wenig beißen werde." -
Während sein roter Seelenbruder wieder Richtung Norden flog überlegte Cale krampfhaft was das schlimmere Los war: Jedes Quäntchen Mut zusammenzukratzen und die Grafentochter um einen Tanz zu bitten oder Tailons beachtliche Zähne zu spüren zu bekommen.
- "Glaube mir Cale, meine Zähne sind wesentlich unangenehmer als ein Tanz mit einer hübschen Frau." -


Mit gemischten Gefühlen starte Trianna auf die massive Tür, die ihn Ihr Labor führte. Ihr "Schüler" Tjurin hatte diese soeben lautstark ins Schloss geworfen. Die Magierin hatte ihn davon in Kenntnis gesetzt, dass sie ihre gemeinsamen Experimente für einige Wochen aussetzen würde. Dies war ihrer Meinung nach die vernünftigste Vorgehensweise.
Vier Reiter waren seit den Vorgängen in Bullridge mit Ermittlungen beschäftigt. Zwar hatte sie nicht an der Konferenz teilnehmen können, die die Reiter mit Königin Nasuada abgehalten hatten, doch inzwischen war Ihr das Ergebnis dieser Unterredung sehr wohlbekannt.
Alle Geisterbeschwörer im Reich wurden von den Reitern überprüft und die Königin war wesentlich aufmerksamer geworden, wenn es um magische Experimente ging.
Für jeden klar denkenden Menschen war ersichtlich, dass es im Augenblick viel zu gefährlich war sich auf verbotenes Gebiet zu begeben.
Tjurin hatte auf diese Ankündigung seiner Lehrerin mit äußerster Wut reagiert. Was sagt das über die Denkweise dieses jungen Mannes aus?
Nicht zum ersten Mal beschlichen Trianna Zweifel was Ihr Bündnis mit dem jungen Adligen anging.
Sie experimentierte mit Geisterbeschwörung, weil sie Wissen und Einsicht erlangen wollte. Sie wollte keine Rebellion gegen Nasuada starten. Warum auch? Sie hatte schließlich an der Seite derer gekämpft wie Galbatorix gestürzt hatten. Sie war eine Persönlichkeit von Einfluss und Macht und Ihr Auskommen war gesichert. Der einzige Grund warum sie die Gesetze ein wenig bog war die Tatsache, dass die Königin ihrer Meinung nach kein rechtes Verständnis für Magie hatte. Wie die meisten normalen Menschen fürchtete sie, was sie nicht verstehen konnte.
Tjurins Beweggründe waren wohl weit weniger noble. Ihm ging es um Macht. Auch eine beschränkte Sichtweise die besonders bei denen vorkam die nichts von Magie verstanden. Die Kraft der Magie war so viel mehr als einfach nur ein Werkzeug um seinen Willen zu erreichen.
Vielleicht war es besser die Allianz mit dem jungen Mann zu beenden. Doch konnte Trianna das so einfach tun?
Er hatte schon einiges von ihr gelernt und würde sicherlich bemüht sein, sein Können durch weitere Experimente zu verfeinern. Wie leicht konnte da etwas außer Kontrolle geraten? Außerdem würde der Wegfall seiner finanziellen Unterstützung ihrer Experimente, sobald sie sie wieder aufnahm, erheblich behindern. Nein, noch brauchte sie Tjurin. Sie konnte nur hoffen, dass er mit der Zeit eine größere Wertschätzung für die Magie entwickeln würde und nicht nochmal solch eine Dummheit wie in Bullridge begehen würde.
Abermals musste Trianna mit der Stimme ihres Gewissens kämpfen. Den Tod von über 20 Menschen konnte man sicher nicht als Dummheit abtun. War es wirklich klug so jemanden weiter zu unterrichten? Doch was blieb Ihr anderes übrig?
Nur so konnte sie Tjurin wenigstens überwachen. Anzeigen konnte sie ihn schließlich schlecht. Wenn er stürzte würde auch sie fallen. Vielleicht würde die Königin Milde walten lassen weil sie eine verdiente Magierin des Reiches war, doch mit Sicherheit wäre es dann vorbei mit ihren Experimenten. Nein, im Augenblick war die einzige Möglichkeit die Fortführung der Allianz wobei sie Tjurin von nun an der kurzen Leine zu halten gedachte.
Die Wochen, in denen sie keine Experimente durchführen würde, hatte Trianna vor sinnvoll zu nutzen. Noch immer waren große Teile von Durzas Tagebuch nicht übersetzt. Was für Geheimnisse das Buch wohl noch preisgeben würde? Einen Begriff tauchte immer wieder auf. Das Wort: Dauthdaert.


2297 Wörter

Eragon Band 6 - Die Wege der ReiterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt