Und warum wurdest du wach?

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"Setzt euch doch schon mal, ich gehe noch schnell auf die Toilette", schlug meine Mutter vor und zeigte auf den freien Tisch, der für uns drei reserviert war. "Gut, aber beeil dich." Mom verschwand im Bereich, in dem die Toiletten waren und Dad und ich nahmen auf den schwarz lackierten Holzstühlen Platz. "Weißt du schon was du bestellen möchtest?", fragte mich mein Gegenüber. "Vielleicht irgendwas mit Nudeln. Aber wollen wir nicht auf Mama warten?" "Klar. Wo bleibt die denn schon wieder?"

Während des Essens unterhielten wir uns entspannt. Ich bekam neue Updates was meine Onkel und Tanten, sowie deren Kinder, anging und erfuhr sogar, dass meine Cousine wohl ein Jahr ins Ausland wollte. "Darf sie das denn? Sie ist doch nicht mal 18, oder?" "Nora ist schon 20", erklärte mein Vater. "Schon 20? Gott, wo ist die Zeit hin? Was möchte sie denn machen?" "Puhh, keine Ahnung was das war. Glaube sie wollte als Au Pair irgendwo arbeiten." "Oh wow, das klingt spannend." In diesem Moment merkte ich, wie sehr ich meine eigene Familie vernachlässigt hatte seit dem ich ausgezogen war. Eigentlich war ich immer ein Familienmensch und liebte es, miteinander Zeit zu verbringen, aber in den letzten Monaten war ich so ziemlich auf mich selbst und mein Leben Zuhause fokussiert.

Meine Mutter sah mich sanft an und legte dann ihre Hand auf meine. "Du verpasst viel seitdem du weggezogen bist." Ich seufzte und sah auf das Weinglas vor mir. "Ich weiß..Ich find's ja auch blöd, aber auszuziehen war die beste Entscheidung. Ich war zwar in letzter Zeit sehr abgekapselt von alldem hier, von euch, aber ich lerne immer wieder neues über mich selbst und fühle mich sehr wohl bei mir Zuhause."

Wenn ich an das wohlfühlende Gefühl dachte, dann sah ich all die Momente mit Luisa in meiner Wohnung. Von dem Tag, an dem sie zum ersten mal bei mir war und sie mit mir getanzt hatte, bis hin zu einen unserer Netflix Abende, die sich viel zu oft bis tief in die Nacht gezogen hatten. Seitdem sie weg war, war da kein warmes Gefühl mehr; dann war da nur Kälte und Traurigkeit.

"Irgendwann musste ich ja auf den eigenen Beinen stehen", meinte ich und lächelte. Meine Eltern gaben mir Recht. "Ich sage ja nur, dass du vielleicht mal deine Familie öfter besuchen könntest." Ich verstand was sie meinte und versicherte ihr, das ich versuche dies in Zukunft zu beachten. Wir aßen noch entspannt weiter und zahlten dann zum Schluss.

Auf dem Parkplatz lief uns Judith praktisch in die Arme, als hätte das Schicksal es geplant, denn sie hatte ich mir an diesem Abend nicht erwünscht. Mom erkannte sie sofort und grüßte sie, so herzlich wie sie war. "Frau Sommer! Wir schön Sie mal wieder zu sehen. Wie geht es Ihnen? Emma, kennst du Frau Sommer noch?" Judith sah mich an und ich war mir sicher, dass wir das selbe dachten. "Frau Sommer, sicher, Deutsch- und Klassenlehrerin." "Genau. Danke, mir geht es gut." Sie lächelte freundlich und wirkte äußerst professionell, nicht so, wie ich sie in letzter Zeit erlebt hatte. "Was treibt dich in die Heimat?", fragte sie mich nun und sprach im selben Ton, mit dem sie eben noch mit meiner Mutter geredet hatte. "Oh, naja. Ich wollte meine Eltern besuchen", log ich, wobei ich mir sicher war, das sie den wahren Grund kannte. "Verstehe." Ihr Blick wechselte zwischen meinen Eltern und mir. "In Ordnung, dann halte ich Sie mal nicht länger auf." "Ach das tun Sie nicht." "Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend, vielleicht sieht man sich ja noch mal", meinte sie und richtete ihre letzten Worte unbemerkt an mich. Hoffte sie, das ich sie besuchen fahre? Nach meinem letzten Besuch in ihrem Haus, wollte ich ungern wieder dorthin. Es war nicht so, dass ich es nicht wollte, aber bei dem Gedanken daran, dass wir beide zusammen, alleine, in ihrem Haus waren sorgte für ein mulmiges Gefühl in mir.

In der letzten Zeit hatte ich nicht mehr über diese Nacht nachgedacht, aber gerade jetzt spielte sich das Szenario von Judith, die mich ohne Kontext in der Nacht geküsst hatte, vor meinem inneren Auge ab. Unschlüssig darüber, ob ich zu ihr gehen sollte oder nicht, sah ich aus dem Autofenster und lehnte meine Stirn an die kalte Scheibe.

Nordsee WindWo Geschichten leben. Entdecke jetzt