Elena
»Hast du gesehen, wie er dich angestarrt hat?«, fragt Lynn mit großen, runden Augen, leckt an ihrer Kugel Eis. Sie spricht von dem hübschen Mann im Anzug, in den ich vor fünf Minuten gerannt bin. Aus Versehen natürlich. Ich habe so doll gestammelt wie noch nie in meinem Leben zuvor, kann mir nicht erklären wieso. Peinlich genug, nein, er hat mich auch noch erwischt, wie ich zurückgesehen habe, nachdem ich einfach ohne einen Ton, geflüchtet bin. Zum Glück haben wir uns erst danach Eis gekauft. Sonst hätte ich seinen sündhaft teuren Anzug völlig mit meiner Kugel Schokoladeneis ruiniert. Es hätte ein unschönes, braunes Fleck direkt auf seiner straffen, muskulösen Brust hinterlassen. Der Anzug ist vermutlich mehr wert als unser Urlaub hier. Nie im Leben könnte ich mir leisten, ihn zu ersetzen, oder in die Reinigung geben zu lassen. Das Schokoladeneis hätte den feinen Stoff völlig ruiniert. »Ja, habe ich gesehen«, nuschle ich beschäftigt, verschlinge mein Eis peinlich berührt. Ich muss mich dringend mit etwas ablenken. Ich möchte nicht über diese Situation sprechen. Mein Herz schlägt noch immer schneller vor Scham. Es wäre halb so schlimm gewesen, wäre er nicht so verdammt gutaussehend gewesen. Nun habe ich einen guten Eindruck davon, wieso Lynn ganze zwei Wochen hierbleiben will. Sie will auch so einen. Und wie ich sie kenne, wird sie dafür nicht lange brauchen. Lynn ist eine dieser Frauen, die ein unglaublicher Charme umgibt. Jedes Mal, wenn wir in London feiern sind, schleppt sie eine Sahneschnitte nach der anderen ab. Sie hat es drauf, hat dieses etwas, bei dem kein Mann widerstehen kann.
»Man, seine Türsteher-Freunde sahen so aus als wollten sie dich umbringen, als du in ihn gelaufen bist«, schüttelt sie den Kopf. Wir sitzen auf einer Bank, unter den schattigen Laubbäumen gleich neben der Newa, dem Fluss, der sich quer durch die Stadt zieht. Es ist noch wärmer geworden als bei unserer Ankunft, gute dreißig Grad im Schatten. Auf unserer Sightseeingtour haben wir einen riesigen Stau gesehen, der sich im Zentrum gebildet hat. Zum Glück stehen wir da nicht mit einem Mietwagen. Vermutlich müssten wir den ganzen Tag warten. Nicht brutzeln in der Sonne wie Eier in der Pfanne. »Aber süß waren sie ja, besonders der mit den schwarzen Haaren«, schwärmt Lynn weiter. Ich seufze, neige meinen Kopf zu ihr. »Die hatten beide schwarze Haare. Der linke oder der rechte?«, erkundige ich mich bei ihr. Es interessiert mich nicht wirklich, aber ich gehe auf ihre Worte ein. Sie leckt weiter an ihrem Meloneneis, beginnt zu grinsen.
»Beide, aber der linke war süßer«, antwortet sie, wackelt mit den perfekt gezupften Augenbrauen. Heimlich verdrehe ich die Augen und schüttle den Kopf. Typisch Lynn.
»Wollen wir dann noch Tickets für Montag besorgen?«, wechselt sie zum Glück das Thema, bevor die Sprache wieder auf den Unfall gerade eben kommt. »Können wir machen, lass uns gehen. Danach suchen wir uns ein Restaurant, ich bekomme langsam Hunger.« Symbolisch reibe ich mir den Bauch. Lynn lacht, wir erheben uns. Meine Tasche schwinge ich mir über die Schultern, esse den letzten Rest meines Eis auf.Wir schlendern am Ufer der Newa entlang, schauen uns die bunten Häuser und hübsch verzierten Brücken an. Dabei planen wir unsere Tage, beschließen, nächste Woche ein paar sehenswürdige Gebäude zu besuchen. Lynn möchte unbedingt in die Isaaks Kathedrale, dessen goldenes Dach wir aus dem Hotelzimmer strahlen sehen können.
Nach zehn Minuten kommen wir auf einem hübschen Platz an der Eremitage an. Lynn bittet mich, ein Bild von ihr, vor den blühenden Rosen zu knipsen. Während ich das Bild mache, kann ich den Süßlichen, nach Frühling dufteten, Geruch der Blumen riechen. Es ist wunderschön hier. Die Wege sind ausgeschildert, so brauchen wir keine fünf Minuten zum Schalter. Hinter der Glasscheibe sitzt eine Frau mit Dauerwelle und bunter Bluse. In ihren fluffigen Haaren sitzt eine graue Sonnenbrille, auf ihrer Nase eine normale Brille. »Wie kann ich behilflich sein?«, möchte sie wissen.
Die Blonde neben mir tritt zum Schalter heran und späht auf eine Tafel, zu unserer Rechten. Dort sind die Preise der einzelnen Karten aufgereiht.
»Guten Tag, kann man schon für Montag Karten kaufen?«, erkundigt sie sich. Die Verkäuferin schiebt sich Bonbons in den Mund, nickt. »Ja, es gibt zwei, vier und sechs Stunden, sowie ein Tagesticket«, erklärt sie uns. »Lass uns ein Tagesticket nehmen, das ist billiger und wir können so lange bleiben, wie wir wollen«, schlage ich flüsternd vor. Lynn nickt grübelnd, beißt sich auf die Unterlippe und denkt darüber nach.
»Ja, geben sie uns bitte zwei Tagestickets für Montag«, bestellt sie.
»Gerne. Möchten sie das normale oder das, ohne anstehen?«
»Ohne anstehen«, antworte ich. Vorhin habe ich die langen Schlangen an den Eingängen gesehen. Den halben Tag in einer Schlange in der prallen Sonne zu stehen, gehört nicht zu meinem Plan. Schließlich möchte ich auch etwas von meinem Tagesticket auskosten. Die Dame hinter der Glasscheibe notiert sich alles in ihrem Computer, ihre Finger fliegen schneller über die Tasten, als ich verarbeiten kann. »Das macht dann zehntausend Rubel zusammen«, erwähnt sie beiläufig. Das müssten ungefähr fünfzig Euro für jeden sein. Lynn bezahlt aus dem braunen Portemonnaie, welches wir unsere Urlaubskasse nennen. Beide haben wir Geld eingezahlt in den letzten Monaten, als Budget für die Ausflüge. Ich bin froh, dass sie es nicht schon verloren hat. Die Frau mit der Dauerwelle druckt unsere Tickets aus, schneidet sie zurecht und schiebt sie durch den Schlitz im Glas, über die Ablage.
»Was sie wissen müssen steht drauf, viel Spaß wünsche ich ihnen«, lächelt sie. Ich greife nach den Tickets, verstaue sie sicher in meiner Tasche.
»Vielen Dank«, verabschieden wir uns.
»Ich freue mich schon so!«, seufzt Lynn munter und hakt sich bei mir unter. Langsam schlendern wir den Weg entlang, kommen wieder an den Rosen vorbei, die bunt blühen. Die Blonde zieht an meinem Arm, bringt mich dazu, anzuhalten. »Ja?«, frage ich sie verwundert. Da hat sie schon ihr Telefon gezückt. »Ich möchte ein Bild von dir machen, weil du vorhin eins von mir gemacht hast«, erklärt sie sich. Einverstanden löse ich mich von ihr, stelle mich vor die schulterhohen Rosenbüsche. Die roten Rosen umrahmen mich. Ich setze ein Lächeln auf, sehe zu Lynn in die Kamera. Sie drückt hörbar den Auslöser, winkt mich zu sich. Das Bild ist ihr gelungen, die Rosen leuchten um mir, mein Lächeln sieht ehrlich aus. »Danke, es ist sehr schön. Schickst du es mir?«, bitte ich sie. »Natürlich, aber suchen wir uns vorher ein Restaurant? Ich sterbe vor Hunger«, erkundigt sie sich bei mir, hakt sich wieder unter. Das ist irgendwie unser Ding geworden.
»Gerne. Soll ich mal Googlen?«, schlage ich vor.
»Oh ja, aber eines mit gutem Ausblick.«
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Saints and Sinners
Romance18+ Sankt Petersburg. Zwei Frauen, zwei Wochen Urlaub. Es könnte perfekt sein, eine Erholung aus der Realität, den stressigen Jobs und den Männern. Elena entflieht ihrer Heimat für ein paar Tage, reist mit ihrer besten Freundin an, um zu entspannen...