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Elena

Ich atme tief durch. Die frische Luft breitet sich in meinen Lungen aus. Meine Kopfschmerzen klingen ab. Ich fühle mich mit jeder Sekunde an der frischen Luft besser. Vor einer halben Stunde hat Antonio mich aus meinem bewachten Zimmer gelassen. Vor der Tür wachen tatsächlich zwei große, furchteinflößende Männer, die jeden meiner Schritte akribisch verfolgen. Ich habe zwar keine Angst, aber Respekt vor ihnen. Antonio, der die rechte Hand meines Vaters zu sein scheint, hat mich nach unten geführt und mir gestattet die Terrasse zu benutzen. Nun stehe ich am Rande der Rasenfläche und halte die Hände an der steinernen Brüstung. Florenz erstrahlt in bunten Farben vor mir, die Sonne prallt gnadenlos auf die Stadt hinab. Sie kitzelt meine Nase und erwärmt mich. Im Gegensatz zu London ist es hier noch Sommer. Es gibt keinen verregneten Herbst, sondern strahlenden Sonnenschein. Eine schöne Stadt. Ich mag es hier. Trotzdem muss ich gehen.

Nachdenklich zeichne ich Kreise auf dem verwitterten Stein des Geländers. Der kühle Wind weht mir um die Ohren. Meine Gedanken sind bei Lynn. Sie wird sich vielen Sorgen machen, die Gewissheit bringt mich fast um. Meine beste Freundin ist wie eine Schwester für mich, es tut weh, zu wissen, dass das sie sich sorgt. Ich beiße mir auf die Lippe und verdränge diesen Gedanken. Es wird mich sonst innerlich zerreißen. Ob sie mir erlauben, ihr eine Nachricht zu schreiben oder sie anzurufen? Ich hoffe es. Lynn ist die letzte Familie, die ich habe. Dass dieser Mann nun mein Vater sein soll, fühlt sich komisch an. All die Jahre habe ich mir ausgemalt, wie er wohl sein wird, doch dies hat alle meine Vorstellungen über Bord geworfen. Miro ist der einzige, dem ich meine Gedanken in dieser Sache anvertrauen kann. Und nun bin ich allein. Er hat mich bestimmt schon vergessen oder denkt, dass ich nichts mehr von ihm wissen will. Tief ausatmend lasse ich meine Schultern hängen. Die letzten Tage belasten meine Seele, liegen wie ein dicker Stein auf ihr. Hier ist niemand, dem ich mich anvertrauen kann.
Dumpfe Schritte nähern sich mir. Das bemerke ich auch, ohne mich umzudrehen. Antonios Schuhe hören sich so an. Keine Sekunde später räuspert er sich. Im Hintergrund höre ich die Gläser aus der Küche klappern.
»Ihr Frühstück wäre nun bereit«, lässt er mich wissen. Nickend lasse ich meine Augen ein letztes Mal auf Florenz ruhen, bevor ich mich wegdrehe und ihm folge. Über dem Steinweg zwischen den hohen Büschen hindurch, bis zu einer großzügigen, abgeschotteten Sitzecke direkt an der Steinmauer. Die Büsche und Sträucher rahmen die Ecke ein, auf der ein gedeckter Holztisch und sechs Stühle stehen. In der Ferne plätschert ein kleiner Springbrunnen, den ich nur vom Stuhl aus sehen kann. Vor mir steht ein polierter Porzellanteller, reichlich Obst und frische Rühreier. Nasse Weintrauben dessen Wassertropfen in der Sonne funkeln, geschnittener Käse, Schinken. Hungrig knurrt mein Bauch, dabei flammt das mulmige Gefühl in meinem Bauch erneut auf. Merkwürdig.
»Esse ich allein?«, frage ich den ruhigen Italiener. Er strahlt Ausgeglichenheit und pure innere Ruhe aus. Antonio schüttelt den Kopf. Seine Hände hält er stets gefaltet vor dem Oberkörper. Wenn er sich bewegt, erkenne ich das Holster der Pistole an seinem Gürtel. Wieso er die wohl trägt? Das letzte Mal, als ich eine gesehen habe, wurde mein Angreifer von Miros Leuten erschossen. Bis heute weiß ich nicht, was mit dem Mann passiert ist. Vielleicht ist das auch besser so, so kann ich nicht von dem Szenario träumen. Allein bei dem Gedanken daran wird mir speiübel.
»Ihr Vater wird gleich eintreffen, fangen Sie schon an«, erlaubt er mir. »Danke. Möchten Sie nichts Frühstücken?«
Er schüttelt stumm den Kopf und verharrt an seiner Stelle, schräg neben mir. In seiner Präsenz lange ich nach dem Rührei und etwas frischem Schinken. Er riecht geräuchert und wurde in feine Scheiben geschnitten. Mehr Hunger habe ich im Moment nicht. Vielleicht nehme ich mir dann noch etwas Melone oder ein paar Weintrauben, die zum Anbeißen aussehen. Antonios Anwesenheit beruhigt mich etwas. Er steht dort wie die Ruhe in Person, mit eisernem Blick. Trotzdem wirkt er sympathisch. Ich muss mir auf die Zunge beißen, um ihn nicht auszufragen. Er wird mich sowieso mit einer kurzen Antwort abspeisen und wieder schweigen. Fast so wie Lew und Stefan, die beiden sprechen auch nie viel in meiner Anwesenheit.

Mein Vater kommt in einem schwarzen Anzug gekleidet um die Ecke. »Wie ich sehe hast du schon angefangen, tut mir leid, dass ich zu spät bin«, entschuldigt er sich bei mir. Er klopft Antonio kurz auf die Schulter, dieser verschwindet daraufhin. Ich schnaube leise. Er ist also mein Babysitter. Klasse.
Kauend beobachte ich meinen Vater, wie er mir gegenüber in den Stuhl sinkt und sich Kaffee einschenkt. Dabei atmet er laut aus. »Sprichst du jetzt nicht mehr mit mir?«, will er wissen und mustert mich. Ich schlucke den ersten Bissen meines Frühstücks hinunter, pikse mir das nächste mit der Gabel an.
»Wo warst du?«, umgehe ich seine Frage gekonnt. Der ältere Mann grinst schelmisch. »Deine Neugier wird dich irgendwann noch in Schwierigkeiten bringen«, sagt er mit ruhiger Stimme. Schulterzuckend überschlage ich die Beine unter dem Tisch. »Was hat das mit meiner Frage zu tun? Ich will wissen was du gemacht hast. Wieso bist du so schlecht auf die Rochevskos zu sprechen? Was haben Sie dir getan?«, frage ich verwirrt. Ich verstehe ihn nicht. Mein Vater schlägt mit der Faust auf den Tisch. In ihr hält er sein silbernes Messer. Sein Brustkorb hebt und senkt sich schwer. »Kannst du aufhören beim Essen über diese Sippe zu sprechen?«, zischt er mir verächtlich zu. Kopfschüttelnd schiebe ich mir ein Stück Melone zwischen die Lippen. »Ich denke nicht mal dran. Ich habe ein Recht darauf, es zu erfahren«, stelle ich klar. Mein Vater schüttelt den Kopf und legt sein Brot auf dem Teller ab. »Und wieso? Weil du den Sohn gefickt hast? Das ist kein Grund für mich«, spuckt er. Ich lehne mich ihm entgegen, über meinen Teller.
»Nein, weil du mich verdammt nochmal verschleppt hast und mich hier gefangen hältst und Miro einer der wenigen Menschen ist, die mir wirklich etwas bedeuten!«, fahre ich ihn an. Meine Stimme trieft nur so vor Wut. Die mir jeden Moment droht, wie eine Granate zu explodieren. Der Italiener zieht seine Augenbrauen grimmig zusammen, seine Mundwinkel hängen hinab.
»Mir ist egal wie viel er dir bedeutet, Elena. Diese Menschen sind das pure Gift. Erst haben Sie meine Schwester in ihren Bann gezogen und nun auch dich! Siehst du nicht wie schädlich Sie sind?«, schreit er mich an. Ich zucke zurück. Seine Worte werden mir langsam klar. Seine Schwester? Meine Tante? Was hat Sie mit den Rochevskos zu tun?

Noch bevor ich meine Gedanken aussprechen kann, überkommt mich die Übelkeit. Ich erhebe mich, stürze auf die steinerne Brüstung zu und übergebe mich, den Abhang hinunter. Würgend kralle ich mich in die Steine, bis ich nicht mehr kann. Das säuerliche Gefühl auf meiner Zunge hat sich in meinem Mund breitgemacht, ich wische mir angewidert über die Lippen.
Als ich mich zum Tisch zurückdrehe, sehe ich meinen Vater still dasitzen. Sein Blick eiskalt. Er atmet tief aus, bevor er die Hände in seinem Schoß faltet und den Kopf schüttelt.
»Sag mir nicht, dass ihr verdammt nochmal nicht verhütet habt, Elena.«

Saints and SinnersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt