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Elena

»Ich dachte du kommst in einem Sarg mit zurück nach London«, seufzt Lynn theatralisch auf. Meine beste Freundin umarmt mich fest, steht vor dem Bett und seufzt immer wieder. Obwohl sie versucht, es zu verstecken, entgehen mir ihre roten Augen nicht. Sie hat geweint.
»Ich lebe ja noch«, klopfe ich ihr sanft auf den Rücken.
»Zum Glück...«
Ihre Worte sind nur ein Nuscheln in meinen Haaren. Nach einer kurzen Nacht im russischen Krankenhaus fühle ich mich schon besser. Meine rechte Seite, an der ich gegen das Auto geprallt bin, hat etliche blaue Flecken abbekommen, meine Stirn eine Platzwunde. Doch lässt man diese Dinge Außeracht, geht es mir besser als gedacht. Dank der starken Schmerztabletten, die mir die Nachtschwester verabreicht hat, fühle ich mich nicht elendig, sondern ganz passabel.
Ich bin froh endlich hier wegzukönnen. Da ich kein Wort Russisch spreche oder verstehe, ist es mir schwergefallen, mit den Mitarbeitern zu kommunizieren. Die meisten hier, sind schon älter und sprechen schlecht Englisch, manche gar nicht.

Als Miro heute Morgen vorbeigekommen ist, habe ich mich direkt bessergefühlt, da ich wusste, dass er alles regeln wird für mich. Auch wenn ich es nicht mag abhängig zu sein, im Moment will ich nur hier raus. In die Freiheit. Ich möchte meine letzten Tage hier nicht im Krankenhaus verbringen.
»So hast du dir deinen Urlaub nicht vorgestellt, hm?«
Eldaro lehnt mit schief gelegtem Kopf an der Wand gegenüber des Bettes. Er ist erst vor einer halben Stunde mit Lynn aufgetaucht. Ich kann mir denken, was zwischen den beiden läuft.
»Nein habe ich nicht... aber was uns nicht umbringt macht uns stärker, oder?«, keuche ich und stehe mit wackligen Beinen auf. Lynn hält mich.
Miros Bruder schmunzelt.
»Richtig. Du bist tough, das hätte ich nicht gedacht Britin«, gibt er zu.
Meine Mundwinkel zucken in die Höhe, als Lynn mir meine Jacke überzieht. Meine Arme fühlen sich noch immer wie Zementsäcke links und rechts an meinem Körper an. Ich kann sie unmöglich über den Kopf heben und bin meiner besten Freundin dankbar, dass sie mir hilft.
»Ich bin immer für eine Überraschung gut«, lächle ich zu Eldaro. Dieser lacht nur nickend.

Die Tür wird aufgestoßen, bevor noch jemand etwas sagen kann. Miro marschiert mit einem dicken Briefumschlag ins Zimmer. »Deine Papiere sind da, das bedeutet du kannst gehen. Aber Lynn müsste die vielleicht zu deinem Arzt emailen.«
Er reicht ihr den braunen Umschlag mit einem neutralen Blick, ohne seine Maske bröckeln zu lassen. Aber ich erkenne, dass er sich anders verhält als die letzten Tage. Auf dem Gesicht seines Bruders liegt derselbe Ausdruck. Neugier kommt in mir auf. Wenn wir allein sind, muss ich ihn fragen, was los ist. Denn etwas stimmt mit Sicherheit nicht.
»Habt ihr vielleicht einen Scanner? Dann kann ich es gleich heute schicken«, fragt Lynn und schaut Eldaro an. Dieser nickt mit den Händen in den Hosentaschen.
»Sicher, ich werde dich mitnehmen. Wenn ich richtig liege, wollen die beiden hier eh allein sein.«
Er zeigt mit dem Finger zwischen uns her. »Ja, ich bin froh dein Gesicht ein paar Stunden mal nicht sehen zu müssen«, antwortet Miro ihm trocken. Sein Bruder grinst provozierend, antwortet; »gleichfalls.«
Die beiden sind wie Kinder, die sich um einen Lolli streiten.
»Also wollen wir?«, erkundigt Lynn sich. Ich halte mich wie schon vor fünf Minuten an ihrem Arm fest. »Ja lass uns gehen«, murmle ich. Ich will endlich sitzen und hoffen, dass meine Kopfschmerzen nachlassen. Die Blonde setzt sich langsam in Bewegung, nach dem ersten Schritten lasse ich ihren Arm los und laufe neben ihr her. Die zwei Brüder begleiten uns.

Wir durchqueren das gesamte Krankenhaus auf dem Weg nach draußen. Das Gebäude scheint alt zu sein, mit dicken Mauern und alten Türen. Nur das Parkdeck ist neu. Gleich neben dem Eingang steht ein teurer Mercedes, dessen Lack in der Sonne glänzt. Selbstbewusst steuert der große Russe darauf zu, betätigt den Schlüssel und lässt ihn aufblinken. Kurz darauf öffnet sich die Klappe des Kofferraums automatisch. »Schickes Auto«, merkt Lynn an. Sie hat einen kleinen Faible für teure Dinge.
Miro, welcher sich gerade die Sonnenbrille auf die Nase schiebt, schielt dahinter hervor und nickt. Mit einem Handgriff hat er die kleine Tasche verstaut.
»Danke, war auch teuer.«
»Oh das glaube ich dir sofort...«, murmelt Lynn. Mit ihren lackierten Fingern streift sie über den Lack und grinst. »Eldaro hast du auch so einen?«, fragt sie ihn. Seufzend lehne ich mich gegen die Fahrertür und verdrehe die Augen. Typisch Lynn. Sie stiftet gerne Unruhe.
Eldaro schnaubt mit gestrafften Schultern.
»Babe, du kennst meinen Wagen doch«, zwinkert er. Ich kotze gleich. Lynn kichert, als trägt sie eine rosarote Brille auf der Nase.
»Könnt ihr euch vielleicht nachher weiter mit euren Blicke ausziehen? Mein Kopf schmerzt...«, frage ich die beiden. »Natürlich, tut mir leid Elena«, entschuldigt meine beste Freundin sich. Sie schüttelt schnell den Kopf, eilt um den Wagen und deutet mir zu ihr zu kommen. Meine Migräne bringt mich fast um. »Steig schon ein«, drängelt sie mich liebevoll. Mit gerunzelter Stirn sinke ich in den bequemen Ledersitz. »Kommst du nicht mit?«, frage ich verwirrt und sehe auf. Die blondine schüttelt den Kopf und verneint meine Frage. »Ich gehe noch mit zu Eldaro den Brief scannen, damit dein Arzt ihn bekommt. Und wenn wir wieder in London sind, dann lässt du dich nochmal durchchecken, klar?«
Mahnend schaut sie mich an, wie eine Mutter auf ihr Kind hinunter. Da ich weiß, wie gut sie es meint, nicke ich. »Natürlich. Komm nicht zu spät ins Hotel, wir können noch einen Film ansehen und Eis bestellen«, schlage ich vor. Sofort blitzen ihre Augen auf. »Das hört sich nach einem verdammt guten Plan an, Elena. Ich werde mich beeilen«, verspricht sie aufgeregt und klatscht begeistert in die Hände. Am Ende quietscht sie kurz auf, küsst meine Wange und schmeißt die Tür zu. Ich sehe sie noch im Seitenspiegel auf Eldaro zu wackeln, bis sie zusammen aus dem Spiegel verschwinden.

Saints and SinnersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt