Miro
Ich kenne diese Stadt besser als jede andere, auf dieser Welt. Jede Gasse, jeden Winkel, der noch so unbekannt scheint. Wir beherrschen jede Kamera und jeden Teil dieser Stadt. Die Rochevskos sind ein Urgestein dieser Stadt. Ein wahres Juwel des Landes. Ursprünglich stammen sie aus einer südlichen Provinz, zwischen schwarzem und kaspischem Meer. Richtig gehört, meine Sippe ist den ganzen Weg, tausende von Kilometern, bis nach Sankt Petersburg. Und das zu Zeiten, in denen es nur Pferde und Planwagen gab. Praktisch gesehen, gehören meine Vorfahren inoffiziell mit zu den Gründern dieser Stadt. Im Verlaufe der Jahre bauten sie ein Imperium auf. Mercurys Herrenschneider und der gleichnamige Nachtclub, Mercury, sind nur zwei der Dinge, die mein Großvater dazu gebracht hat. Meine Familie ist auf Immobilien und Banken spezialisiert. Beides sind Kernpunkte unserer Geschäfte. Mit den Immobilien wird das Geld gewaschen, unsere Banken vertreiben es in die ganze Welt. Ein ausgeklügeltes System, das seit mehr als hundertzwanzig Jahren reibungslos funktioniert.
Heute besitzen wir einen Großteil der Gebäudekomplexe. Durch Mieten, dem Handel von Diamanten und Schmuck, kommen wir zu unserem Geld. Mein Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Großvater war der erste, der damit begann. Er bestahl einen Zaren, erleichterte ihn nicht nur um eine unbezahlbare Goldkette, sondern auch um seine Frau. Innerhalb eines Jahres stieg er vom armen Bettlersohn, zu einem der reichsten Männer der Stadt auf. Bis zu seiner Ermordung, zwölf Jahre später, lebte er im heutigen Anwesen meiner Familie. Das edle, exquisite Herrenhaus, liegt nicht weit von der Stadt entfernt, zwischen endlosen Tälern und Wäldern. Es ist himmlisch dort. Aber ich genieße im Moment die Zeit weit weg davon. Mein Vater hat Bluthochdruck, ist dementsprechend stetig gereizt und hat einen Ruhepuls, der einem fast die Pumpe aus der Brust springen lässt. Seine aufbrausende Art geht mir tierisch auf die Nerven. Ich kann mir nicht erklären, wieso Mutter es seit zweiunddreißig Jahren mit ihm aushält. Es ist mir ein Rätsel.
Zunge schnalzend betrachte ich mein Spiegelbild. Der Anzug, den Vladislav, ein begabter Herrenschneider, mir aufgeschwatzt hat, sitzt besser als gedacht. Die polierten Schuhe und meine sorgfältig gelegten Haare, runden das Bild perfekt ab. »Die Ärmel sind zu lang«, nörgle ich dennoch.
»Ärgerlich...«, füge ich leise hinzu, beobachte Vladimir durch den alten barocken Spiegel an der Wand. »Das habe ich mir schon gedacht. Ich bin bestens vorbereitet«, erwidert der Schneider, hängt sich sein Maßband um den Hals. Durch den Spiegel sehe ich, wie er zwischen den Kleiderstangen verschwindet, höre ihn in einer Schachtel kramen. Ungeduldig atme ich aus, mahle auf dem Unterkiefer. Wohl oder übel, muss ich mich bewegen, auch wenn es mir nicht geraten wurde von Vladislav. Überall im Anzug hat er Stecknadeln, um ihn später enger schneidern zu können.Meine Augen ruhen auf meiner schweren Armbanduhr. »Du hast noch zwanzig Minuten und das ist erst der zweite Anzug«, erinnere ich ihn barsch. Es klappert laut hinter mir, ich sehe ihn auf mich zueilen, lasse den Arm sinken. »Keine Sorge. Es läuft alles wie am Schnürchen«, lächelt er überzeugt, schafft es aber nicht, mich auch auf seine Seite zu ziehen. Werden wir sehen, denke ich mir, wende den Kopf starr nach vorn. Diese Anproben machen mir alles andere als Spaß. Ich hasse es, stundenlang auf dem Ebenholz Podest zu stehen, während er an mir herumzupft wie eine Ballerina an ihrem neusten Tutu.
»Mein Vater erwartet mich pünktlich beim Abendessen und der Verkehr sieht grausig aus«, erkläre ich Vladislav. »Mhm davon habe ich schon gehört. Das Verkehrschaos ist schon seit heute Morgen so schlimm. Anscheinend gab es wieder ein paar Demonstrationen am Platz«, erzählt er mir, steckt die Ärmel meines Jacketts einwandfrei ab. Aus Versehen pikst er mich mit dem einem, sodass ich auf zische und ihn sauer anfunkle.
»Pass doch auf«, herrsche ich ihn an, wende meinen Kopf grimmig ab. Er soll mir die verdammten Nadeln nicht unter die Haut, sondern in den teuren Stoff des Jacketts stecken. »Entschuldige, ich bin gleich so weit«, pardoniert er sich bei mir, läuft um mich auf die linke Seite. Dort wiederholt er den Prozess.
Gelangweilt straffe ich meine Schultern, öffne mit der rechten Hand die Knöpfe des Kleidungsstücks. Nun fällt er locker über meinen Oberkörper, verschafft mir Abkühlung. Im Laden ist es verdammt warm, was auch die beiden Männer an der Tür merken. Immer wenn sie denken, dass ich nicht hinsehe, wischen sie sich verschwitzt über die Stirn. Kein Wunder bei dem Wetter. Es herrschen gute dreißig Grad draußen, die Straßen sind voller Menschen, die durch die Geschäfte spazieren. Persönlich halte ich nichts davon, an tagen mit sommerlichen Temperaturen, stundenlang über den glühenden Bordstein der Stadt zu wandern. Was finden die daran? Das ist wie Joggen bei dieser Hitze. Nur ein Wort fällt mir dazu ein; Selbstmord. Mehr ist es nicht. Reiner Selbstmord.
»Wenn du deinen Job gut machst, besorge ich dir eine Klimaanlage«, versichere ich Vlad. Ich weiß, dass er immer exzellente Arbeit leistet, aber ein schlichter Ansporn schadet nicht. Der Schneider nickt, vertieft in seine Arbeit. Mehr brauche ich nicht zu sagen.»Hey«, rufe ich zu den beiden Männern an der Tür. Fragend drehen sie sich zu mir. Beide schauen aus wie Kühlschränke – hochgewachsen und breit gebaut. Mit den schwarzen T-Shirts und Hosen sehen sie aus wie unheimliche Türsteher. Zumindest auf andere, müssen sie so wirken. Ich kenne es nicht anders. Seit ich denken kann, verfolgen mich die Wachmänner meiner Familie auf Schritt und Tritt. Überall wo ich war, waren sie ebenfalls. Egal ob in der Schule oder in der Stadt. Sie sind meine Schatten, die für meine Sicherheit sorgen. Über die Jahre haben die Männer sich selbstverständlich gewechselt. Lev und Stefan sind seit zehn Jahren meine Leibwächter, sind lediglich ein paar Jahre älter als ich. Ich vertraue ihnen mein Leben an. Und sie haben schon bei mehreren Gelegenheiten bewiesen, dass ich auf sie zählen kann. »Besorgt euch Wasser aus dem Wagen, es dauert noch zehn Minuten«, weiße ich sie an. Lev, der Jüngere der beiden, nickt stumm. Er redet nicht sehr viel, wenn er arbeitet. Das schätze ich an ihm. Trotzdem gibt er mir gute Ratschläge, wann immer ich sie brauche. Vermutlich trifft auf ihn die Bezeichnung bester Freund oder engster Vertrauter meinerseits, zu.
Zehn Minuten später, beendet Vlad seine Arbeit pünktlich und lässt mich wieder in der Kabine verschwinden. Ich ziehe mich um, lege den unfertigen Anzug auf die Kommode neben der Umkleide. Mit dem Anzug, in dem ich hier aufgetaucht bin, verlasse ich die Kabine wieder und trete in den alten, antiken Laden.
»Wann wird er fertig sein? Du weißt das ich ihn brauche«, erkundige ich mich bei Vlad, stütze meinen linken Unterarm auf den Tresen der Kasse. Der Schneider, mit Schnauzbart und raspelkurzen Haaren, rückt seine Brille zurecht und wirft einen Blick in seinen Kalender.
»Nun... Bis morgen Abend schaffe ich es sicher. Soll ich anrufen, sobald ich fertig bin?«, schlägt er vor. Ich stibitze mir eine Zigarette aus Stefans Etui, nicke. »Tu das. Wir sehen uns Vlad, angenehmen Tag noch«, verabschiede ich mich, lasse die Zigarette im Futter meiner Hosentasche verschwinden. »Bis Morgen!«, ruft er uns hinterher.Die Tür fällt klingelnd hinter uns ins Schloss, ich schiebe mir meine schwarze Sonnenbrille auf die Nase und trete hinaus in die pralle Sonne. »Verdammtes Wetter«, murre ich genervt. Es ist viel zu warm und voll hier. »Lev, Stefan, lasst uns los. Wir müssen eine kleine Abkürzung zurück nehmen«, scheuche ich die beiden auf. Der Wagen parkt zum Glück gleich gegenüber dem Geschäft. Wir müssen nur über die Straße.
Meine Gedanken werden ruckartig unterbrochen, als mir jemand mit voller Wucht in die Seite läuft. Erschrocken hasche ich nach dem Angreifer, bekomme ihn zu fassen. Wir taumeln ein paar Schritte zurück, ich fange uns ab. Grimmig verwandeln sich meine Augen in Schlitze. Wer wagt es, in mich zu laufen? Ich werde ihn vermöbeln, auf offener Straße. Mürrisch schaue ich hinab, direkt in die waldgrünen Augen einer Frau. »Tut mir leid, ich... ich hätte besser aufpassen müssen«, stammelt sie verzweifelt. Verwundert blinzle ich, bemerke, wie sie ihre Hand gegen mein Hemd drückt, um Abstand zwischen uns zu bringen. Augenblicklich verschwinden meine Arme um sie, ich mustere sie. Noch bevor meine Schatten sie erreichen, deute ich ihnen, von ihr abzulassen. Erst jetzt fällt mir auch die blonde Begleitung meiner Angreiferin auf.
Mucksmäuschenstill beobachtet sie das Geschehen vor ihr. Sie müssen englische Touristen sein, das erkenne ich sofort an dem kleinen Stadtführer in ihrer Hand. Ich wende mich wieder zu der Brünetten, die mich schluckend betrachtet und kein Wort über die Lippen bringt.
»Pass das nächste Mal lieber auf, wo du hinläufst«, rate ich ihr bedacht. Sie reißt ihre Augen auf, presst ihre vollen, geschwungenen Lippen aufeinander und senkt den Kopf. Sie kann meinem stechenden, dominanten Blick nicht standhalten. »Entschuldigung«, murmelt sie schüchtern, packt sich stürmisch ihre beste Freundin und marschiert an uns vorbei. Kopfschüttelnd setze ich meinen Weg fort. Jeden anderen hätte ich sofort einen Kopf kürzer gemacht. Die kann froh sein, dass sie verdammt attraktiv war.
»Schwingt eure Ärsche in den Wagen. Jetzt«, donnere ich in Richtung meiner Leibwächter, lasse kein Widerwort zu. Stefan hält mir die Tür auf, Lev schwingt sich auf den Beifahrersitz. Bevor ich mich auf dem Rücksitz niederlasse, wage ich noch einen Blick nach links, erwische die brünette Touristin, wie sie zurücksieht, sich erhitzt auf die Lippe beißt. Ein amüsiertes Schnauben entfährt mir, ich steige ein. Verspüre, dass sie mir nicht so einfach aus dem Kopf gehen wird.
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Saints and Sinners
Romansa18+ Sankt Petersburg. Zwei Frauen, zwei Wochen Urlaub. Es könnte perfekt sein, eine Erholung aus der Realität, den stressigen Jobs und den Männern. Elena entflieht ihrer Heimat für ein paar Tage, reist mit ihrer besten Freundin an, um zu entspannen...