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Miro

Die Fahrt dauert, wie erwartet länger. Der Stau in der Stadt, ausgelöst von diesen verrückten Aktivisten die sich an Laternen Ketten, ist ganze zehn Kilometer lang. Ein wahres Höllenfeuer mitten im Sommer. Die Sonne prallt gnadenlos auf das Dach hinab, die Klimaanlage arbeitet auf Hochtouren und schafft es doch nicht, gegen die elendige Hitze anzukommen. Ich bin froh, wenn wir es mit dem Tank bis zum Anwesen schaffen, denn die Tankstellen sind viel zu voll.
»Pah, wer ist so dumm und kettet sich bei der Hitze an Laternen?«, donnere ich erbost und pfeffere mein Jackett auf den Sitz neben mir. Der Schweiß läuft mir bereits über die Stirn. Angestrengt wische ich ihn mir mit einem Stofftaschentuch ab. Lev reicht mir eine Flasche kühles Wasser von vorn, die ich ihm ruppig abnehme und mit schwitzigen Händen öffne. »Danke«, murre ich gedämpft und stürze mir das Wasser die trockene Kehle hinunter. Die Abkühlung tut gut, bei dreißig Grad, in der prallen Sonne, in einem schwarzen Auto.
»Ich bin froh, wenn es wieder Winter ist.«
»Da bist du nicht der einzige«, stimmt Stefan mir trocken vom Fahrersitz zu. Er tippt gegen das geöffnete Fenster, brummt genervt. Die Ampel vor uns ist rot. Selbst nach dem umschalten, würden wir nicht rechtzeitig über die Kreuzung kommen. Die Schlange vor uns besteht aus zwölf Autos. Bei jedem Mal, wenn es grün wird, schaffen nur zwei Autos es über die Kreuzung. Das bedeutet, dass wir noch übermorgen hier stehen werden.
Meine Geduld ist langsam am Ende. Im Hinterkopf höre ich bereits Vaters Stimme, wie er mir im Nacken sitzt, weil ich nicht pünktlich sein werde. Auf meiner Uhr schlägt es schon fünfundvierzig. Fünfzehn Minuten, bis ich erwartet werde.
»Okay, es reicht«, beschließe ich, lasse das Fenster nach oben fahren. Stefan schaut mich durch den Rückspiegel an, wartet auf meine Worte. Er weiß, was gleich kommen wird.
»Scheiß drauf. Bringe uns hier raus. Ich regle das schon mit den Behörden«, erlaube ich ihm. Der breite Russe zögert keine Sekunde, drückt aufs Gas und biegt auf den Bordstein ab. Mit dem teuren Wagen rast er hupend über die leere Fläche, um die Hausecke auf die Busspur. Ich kann Genörgel und Gefluche von den anderen Fahrern hören, schnaube diskret und lehne mich zurück. Selbst schuld, wenn sie dort versauern wollen. Immerhin ist die Spur frei gewesen.

Dank des illegalen Fahrens über jegliche freie Spuren und Bordsteine dauert es keine zehn Minuten bis wir das eiserne Tor des Anwesens erreichen. Hupend hält Stefan an, deutete dem Pförtner zu öffnen. Automatisch schwingt das immense, stählerne Tor zu beiden Seiten auf, macht uns den Weg frei. Rauschend bewegt sich der schwarze Wagen die lange Auffahrt entlang, um den imposanten, sprudelten Springbrunnen, kommt vor den Garagen zum Stehen. Bäume Schirmen den gepflasterten Platz von der Sonne ab. Als ich aussteige, vernehme ich zuerst das beruhigende Plätschern der Fontäne, die bei Nacht erleuchtet werden.
»Macht Feierabend, das habt ihr euch verdient«, spreche ich zu meinen beiden Schatten. Stefan und Lev sind wie ich ausgestiegen, lassen das Tor der Garage nach oben fahren. »Gerne, viel Spaß«, wünscht Lev mir. Er weiß, wie sehr ich den Gedanken an ein gemeinsames Essen mit meiner Familie verabscheue. Deswegen antworte ich nicht, lange nach meinem Jackett und zeige ihm den Mittelfinger. Das versteht er auch ohne Worte.
Galant husche ich durch die massive Haustür in den klimatisierten Innenbereich. Meine Schuhe hallen an den Wänden entlang durchs gesamte Haus. Eine großräumige Halle zieht sich empor, in dessen Mitte, über der geschwungenen Treppe ein gigantischer Kronleuchter prangt. Der Schachbrettboden ist poliert und die Wände in Beige gehalten. Goldene Spiegel schmücken die Wände der Flure, die sich zu beiden Seiten erstrecken.
Zielstrebig schreite ich quer durch die Räume auf die große Terrasse zu, auf der ich bereits einige Gesichter erkennen kann. Durch die hohen Schiebetüren betrete ich sie, entdecke meine Mutter unter einem Sonnenschirm am gedeckten Tisch sitzen.
»Guten Abend«, wünsche ihr ihr, beuge mich hinunter. Die ältere, aber bildhübsche Frau mit den schmucken, teuren Ohrringen und dem Sommerkleid, beginnt zu strahlen. »Miro! Wie schön, dass du da bist«, freut sie sich. Mutter ist das genaue Gegenteil von meinem Vater. Sie ist gutherzig, liebevoll und hat alles für mich getan. Stets hat sie mich umsorgt, mir essen gekocht, obwohl Vater es nicht gut fand, dass sie es selbst zubereitete. Sie hatte mir Gute-Nacht-Geschichten vorgelesen, mir Tee gekocht, wenn ich erkrankt war und mich vor allem in Schutz genommen. Sie ist die wahre Verkörperung einer liebenden Mutter und der einzige Grund, wieso ich noch hier bin.
Lächelnd beuge ich mich zu ihr hinab, küsse ihre Wange sanft. »Wie geht es dir? Warst du heute beim Yoga?«, erkundige ich mich. Ihr Yogagefasel interessiert mich nicht, dennoch bin ich höflich. Im Grunde genommen ist es nur eine Gruppe reicher Ehefrauen in den Fünfzigern, die mehr Geld haben als das sie ausgeben können. Aber meiner Mutter tun die Yogaübungen gut. Sie ist besser gelaunt, seit sie sie besucht.
»Gut mein lieber. Es läuft alles perfekt. Und bei dir?«, möchte sie gerne wissen. Ich sinke in meinen Stuhl, lasse mir von der Küchenhilfe ein Glas Wasser und eines mit Schnaps bringen. Zum Essen hätte ich gerne beide Optionen. »Ebenfalls. Vladimir schafft meinen Anzug bis morgen«, erzähle ich ihr. Mutter nippt an ihrem Drink, hebt die Augenbrauen interessiert. »Schön mein Kind. Ich bin froh, dass du hier bist, wir essen so selten zusammen an einem Tisch«, seufzt sie wehleidig. Ja, vielleicht weil Vater so aufbrausend ist, denke ich mir und trinke einen großen Schluck. Entscheide mich, nicht darauf zu antworten. In dem Moment spaziert mein Bruder aus dem Wohnzimmer auf die Terrasse. »Na sieh mal einer an, wenn das nicht Miroslav ist«, höhnt er mir gerecktem Kinn, setzt sich mir gegenüber, grinst selbstgefällig.
»Eldaro... bis eben war der Abend noch schön«, schmunzle ich konternd. Mein kleiner Bruder lacht leise, lehnt sich gelassen zurück.
»Hast deinen Arsch ja doch noch hergeschafft, bevor Vater Herzleiden bekommt«, bemerkt Eldaro amüsiert.
»Oh bitte.... Das hat er schon seitdem die Cops die tote Nutte in einem deiner Apartments gefunden haben«, erwidere ich unbeeindruckt. Der Ton zwischen uns ist immer so schroff. Mittlerweile kennen wir es nicht anders. Eldaro lebt gerne seine Fantasien aus, tut, was ihm gemach. Es ist kein Geheimnis, das er, wie alle in der Familie, einen hang zum Verbotenen hat. Die Rochevskos sind erfolgreich im Juwelengeschäft, was man unschwer, an den teuren Accessoires erkennen kann, die meine Mutter trägt.
Eldaro leitet das Mercury, einen Club in der Stadt, der gerade erst renoviert wurde. Er versucht mich schon seit Wochen, zu überreden, dem Club einen Besuch abzustatten. Aber ich bin wenig gewillt, auf seine Bitte einzugehen. Dort ist es mir zu voll, laut, und pöbelnde Touristen hängen ständig in den Straßen, sind beleidigt, wenn sie nicht reingelassen werden. Das Mercury ist ein Club mit Klasse und keine Saufbar für halbwüchsige. »Wo ist Vater?« Nicht das es mich wirklich interessiert, ich frage aus reiner Höflichkeit. Und weil ich Hunger habe. Eldaro überschlägt die Beine entspannt, schnipst mit dem Finger und deutet der Haushaltshilfe, näher zu kommen. Keiner scheint auf meine Frage eingehen zu wollen. »Bring mir doch noch ein Bier, danke Liebes«, lächelt er ihr anzüglich entgegen. Skeptisch verenge ich die Augen, ziehe meine Brauen zusammen. So wie die beiden sich ansehen, ist da was faul.
»Fickst du sie?«, will ich deshalb neugierig wissen, warte aber bis sie in der Küche verschwunden ist. Meine Mutter zieht die Luft ein. »Miroslav! Nicht am Esstisch!«, fährt sie mich säuerlich an, duckt den Kopf wieder hinter ihre Zeitschrift. So als hätte ich es nicht gehört, wende ich mich wieder meinem Bruder zu, auf dessen Lippen noch ein Schmunzeln liegt.
»Was würde dich das angehen? Selbst wenn es so wäre, würdest du als letzter davon erfahren. Eifersüchtig mein Lieber?«, grinst er. Ich hebe die Augenbrauen, lege meinen Kopf schief. Still sehe ich zu, wie die schwarzhaarige ihm ein Glas Bier vor die Nase stellt, wieder verschwindet. Sie kann nicht älter als er sein, höchstens fünfundzwanzig. Das würde bedeuten das sie fünf Jahre jünger, als er wäre. Noch dazu würde meine Familie sie niemals akzeptieren. Sie bevorzugen es, Beziehungen einzugehen, von denen sie Profit schlagen.
»Eifersüchtig auf dich? Würde mir nicht mal im Traum einfallen, Eldaro. Aber zurück zu meiner Frage; Wo ist Vater?«, will ich wissen, tippe mit meinem Zeigefinger, ungeduldig gegen die Lehne des Stuhls. Wie auf Kommando knurrt mein Bauch hungrig auf. Mein Bruder nimmt einen großen Schluck seines Getränks, stellt das Glas geräuschlos auf dem Tisch ab und lehnt sich zurück, mit dem Kopf in die Sonne.
»Als ich meine Räume verließ, habe ich ihn telefonieren gehört. Er klang aufgebracht«, erklärt er mir.
»Ein Wunder, das die Bluthochdrucktabletten überhaupt noch helfen«, murmle ich seufzend, bringe meinen Bruder amüsiert zum Schmunzeln. Er denkt das Gleiche wie ich über Vater.
»Wann gedenkst du eigentlich, im Mercury aufzutauchen? Diesen Freitag steigt wieder etwas Exklusives. Ausschließlich schwarze Kleidung darf getragen werden. Fredo hat sich die Scheiße einfallen lassen«, erzählt er. Da wären wir wieder beim Thema des Clubs. Egal wie oft ich nein sage, er wird mich nie damit in Ruhe lassen.
»Und da hast du gedacht dein großer Bruder kreuzt vielleicht auf?«
»Schwarz ist doch deine Farbe, oder nicht?«
»Nein. Genaugenommen ist das nämlich keine Farbe.«

Eldaro wirft den Kopf genervt in den Nacken und schlägt sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.
»Einmal, nur einmal bitte ich dich, da aufzutauchen, klar? Danach nerve ich nie wieder damit, versprochen. Nur dieses eine Mal. Und du weißt, wie sehr ich es hasse, betteln zu müssen«, zischt mein kleiner Bruder mich an. Amüsiert höre ich ihm zu. Es ist Musik in meinen Ohren, ihn flehen zu hören. »Ich überlege es mir«, antworte ich, ernte einen giftigen Blick seinerseits. Er hasst es, dass ich ihn zappeln lasse, mich amüsiert es lediglich.
»Ficker«, zischt er. Dafür bekommt er eine mit der Zeitschrift von Mutter. »Nicht an diesem Tisch! Was habe ich nur falsch gemacht bei euch?«, schimpft sie zornig und straft uns mit einem bösen Blick.
»Das frage ich mich auch immer wieder«, mischt sich mein Vater ein. Sofort erhebe ich mich, drehe mich zu dem älteren Mann und gehe auf ihn zu. Er streckt mir seine Hand entgegen. »Wird Zeit«, murrt er. Ich vergesse sein Kommentar, sinke wieder in meinen Stuhl.
»Und du?«, wendet er sich an Eldaro.
»Schwing deinen Arsch her«, spricht er mit polternder Stimme. Zurückhaltend schaue ich zu, wie mein kleiner Bruder sich erhebt und auf Vater zugeht, der in der Terrassentür des Wohnzimmers steht. »Begrüßt du mich nicht mal mehr? Hab dich heute den ganzen Tag noch nicht gesehen«, will er von ihm wissen. »Schuldige, hab ich vergessen«, murmelt mein Bruder, schlägt kurz bei ihm ein. Vater legt Wert auf Höflichkeiten, besonders zur Begrüßung und Verabschiedung. »Schon gut, setz dich, ich habe Hunger.«
  So wie wir alle.

Die beiden lassen sich nieder, die drei Frauen aus der Küche, bringen uns das Essen. Es gibt gedünstetes Gemüse, Fisch und einen Salat mit Dressing. Es sieht wie immer, lecker aus. »Guten Appetit«, wünsche ich den anderen, fange nach Vater an. Meine Familie erwidert es, wir essen still. Dabei kann es mein Vater nicht lassen, sich über die Dinge seiner Söhne informieren zu lassen. »Wie läuft es bei dir Eldaro? Was macht das Geschäft?«, möchte er von seinem Jüngsten wissen. Der Dunkelhaarige schaut mich siegessicher an, wendet sich in Vaters Richtung. O nein, bitte nicht das, was ich denke ...
»Am Freitag steigt wieder ein Event im Mercury, ich habe Miro dazu eingeladen«, erzählt er ihm. Ärgerlich atme ich aus, schneide ihm das Wort ab, bevor er weiterspricht. »Ich habe mich dazu entschieden, ihm einen Gefallen zu tun und dort für ein paar Stunden aufzukreuzen«, rede ich rasch dazwischen. Diesen Trumpf gönne ich ihm kein bisschen.
Das Zucken seiner Mundwinkel stärkt sich. Der kleine Pisser weiß genau, was er da tut. Er wollte mir Vater auf den Hals hetzen, denn dieser würde mich irgendwie zwingen, hinzugehen. Eldaro spielt mit unfairen Mitteln, das wird er früher oder später zurückbekommen. Dank ihm muss ich meinen Freitag im Mercury verbringen, wie ich den Gedanken hasse. Mir fallen hundert bessere Sachen ein, mit der ich mir die Zeit vertreiben kann. Vielleicht kann ich heute schon ein paar davon umsetzen. Sobald dieses Essen vorüber ist, werde ich zurück in die Stadt fahren.

Saints and SinnersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt