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Elena

Tatsächlich dauert es fast vierzig Minuten bis wir ankommen. Miro gibt an einem eisernen Tor Lichthupe. Das Haus dahinter kann ich noch nicht erkennen. Nur das riesige schmiedeeiserne Tor, die Mauer und die vielen Bäume. Es wirkt wie in einem alten Gruselfilm zur Dämmerung. Zwei Männer öffnen es uns und lassen uns passieren. Es erstreckt sich eine lange, frisch gesäuberte Einfahrt, die der Mercedes ohne Probleme entlang rauscht. Langsam taucht vor uns eine riesige, dreigeschossige Villa auf. Zwei Flügel, eine Garage die größer als der Coffeeshop ist, in dem ich arbeite. »Wow«, entflieht es mir sprachlos. Mir wird mal wieder klar, wie verdammt Reich sie sind. Einschüchternd reich. Ich bekomme einen Kloß im Hals. Oh Gott ...
Miro parkt auf dem Pflaster vor einem der drei Garagentore. Im Rückspiegel sehe ich Lew und einen anderen an uns vorbei hinter dem zweiten Tor verschwinden. Schräg neben uns befindet sich die Haustür. Mit zitternden Fingern greife ich die Blumen, meine Tasche und lege mir die Haare ein letztes Mal zurecht. Miro öffnet mir die Tür wie ein Gentleman, hilft mir beim Aussteigen. »Wieso bist du so nervös Lämmchen?«, fragt er schmunzelnd und zieht mich an sich. Ich lege meine freie Hand gegen seine Brust, schaue auf und schüttle bloß den Kopf.
»Nicht so wichtig«, schlucke ich. Ungläubig mustert er mich, nickt aber dann und kickt meine Tür mit dem Fuß zu. Statt mich loszulassen, legt er nun auch den anderen Arm um mich. Seine Hände ruhen auf meinem Rückgrat. »Du siehst sehr gut aus heute und hast keinen Grund, um nervös zu sein. Verstehst du? Meine Mutter liebt dich eh schon«, gibt er mir ernst zu verstehen.
»Ich weiß nicht...«, gebe ich zu. Er langt mir sanft unters Kinn, um mich dazu zu zwingen, ihm in die Augen zu schauen.
»Hör auf an dir selbst zu zweifeln, Elena.«
»Tue ich doch überhaupt nicht«, nuschle ich.
»Doch tust du«, erwidert er.
Geschlagen seufze ich und presse die Lippen aufeinander. »Na gut, ertappt«, gebe ich auf. Er verschränkt unsere Hände ineinander. Wir passieren den hübschen, sprudelten Springbrunnen, die mediterranen Steine hinauf zur Tür. Er entriegelt sie, lässt mich zuerst eintreten. Im großen Eingangsbereich der Villa ist es angenehm kühl. Ein überdimensionaler Kronleuchter hängt von der mindestens fünf Meter hohen Decke hinab. Der Schachbrettboden aufpoliert und reflektiert die Diamanten des Kronleuchters wunderschön. Zum zweiten Mal verschlägt es mir den Atem. Miro übt sanft Druck auf meinen Rücken aus, ich laufe los. Wir durchqueren einen geräumigen Flur, an dessen Wänden lauter Gemälde und Bilder der Familie hängen. Ich erhasche einen kurzen Blick auf ein Kinderbild, bevor er mich in ein Esszimmer drückt. Wir betreten schwarzen Marmor. »Wir sind da!«, ruft er gelassen und legt sein Jackett auf einem der Stühle ab, die um den gläsernen Esstisch gestellt wurden. Kerzenleuchter stehen in der Mitte, dampfende Platten zwischen ihnen. Darum glänzende Porzellanteller und Silberbesteck. Seine Mutter steckt den Kopf durch einen Türrahmen. Vermutlich befindet sich im angrenzenden Zimmer die Küche, denn es duftet herrlich. Sie trägt einen dunkelgrünen Hosenanzug und ebenso grüne Schuhe, als sie mit ausgestreckten Armen auf uns zukommt. »Oh Schön, dass ihr da seid!«, begrüßt sie uns. Sofort drückt sie mir einen Kuss links und einen rechts auf die Wange. »Danke für die Einladung, ich habe ihnen Blumen mitgebracht«, lächle ich bescheiden. Wenn ich mich recht entsinne, heißt sie Svetlana. Mit großen Augen nimmt sie mir den Strauß ab und steckt ihre Nase zwischen die frischen Blüten. »Danke, die riechen herrlich. Ich werde gleich mal eine Vase holen gehen«, beschließt sie zufrieden. Mir fällt ein kleiner Stein vom Herzen, als sie mit einem großen Lächeln auf den Lippen Richtung Küche läuft. Im Türrahmen neben dem Kamin dreht sie sich noch einmal um.
»Miroslav, besorg schon was zu trinken für Sie«, scheucht seine Mutter ihn auf. Der Mann neben mir brummt nur leise. Als sie außer Hörweite ist, beugt er sich zu mir herüber.
»Möchtest du denn etwas trinken?«
Ich schüttle meinen Kopf.
»Im Moment noch nicht«, lehne ich ab. Der Dunkelhaarige hebt den Kopf wieder und sieht sich um. »Offensichtlich dauert das Essen noch einen Moment. Was hältst du also davon, wenn ich dir das Haus zeige?«, schlägt er vor. Neugierig nicke ich. Nur Zugern würde ich wissen, was sich hinter all den Türen verbirgt.    
»Gerne.«

Er hat mich zuerst durch den Flur zurück in die Halle geführt, die Treppen hinauf in den ersten Stock. Unterwegs habe ich versucht, die vielen Bilder an den Wänden zu zählen, doch es sind einfach zu viele. »Wie Lange wohnt ihr hier schon?«, frage ich im oberen Flur und betrachte den Stuck an den Decken. »Meine Familie besitzt das Anwesen seit Hunderten Jahren. Früher war es die Sommerresidenz meines Ur-Ur-Großvaters.«
»Du meist, bevor eure Familie nach Sankt Petersburg gezogen ist?«, wende ich ein. Er hebt beachtlich die Augenbrauen. »Ich sehe du hast zugehört«, staunt er. Ich verdrehe heimlich die Augen und sehe kurz auf. »Natürlich. Deine Familie ist sehr interessant«, antworte ich. Es ist wahr, seine Familiengeschichte ist voller erstaunlicher Dinge. Es scheint mir wie ein dickes Buch voller Mysterien. Wir schlendern weiter durch den dunklen Flur. Hier oben liegt derselbe Boden wie in der Halle - Schachbrett. Die Wände sind dunkel vertäfelt wie aus der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts und die Rahmen der alten Gemälde noch älter. Eines davon springt mir besonders ins Auge. Ein Landschaftsbild vom Anwesen, gezeichnet in neunzehnhundert. Die Garagen sind dort noch Stallungen und die lange Einfahrt mit Bordsteinpflaster gelegt. Das riesige Tor glänzt in der Sonne und die Bäume sehen deutlich jünger aus. Erstaunt habe ich innegehalten.
»Gefällt es dir?«
»Ja, es ist wunderschön.«
»Mein Lieblingsgemälde im Haus«, lächelt Miro mit dem Kopf neben mir. »Aber ich habe noch etwas, das dir besser gefallen wird«, verspricht er. Voller Neugier sehe ich auf. Jede Sekunde wird sein charmantes Schmunzeln größer. Wortlos soll ich ihm folgen, kann ich in seinen Augen ablesen. Er nickt mit dem Kopf auf die Tür am Ende des Flures, geht voran. Mit einem Griff drückt er die alte goldene Klinke und stößt die knarzende Tür auf. Seine Hand hascht nach links, keine Sekunde später erhellt sich der Raum ein bisschen. Er lässt mich eintreten. Verblüfft drehe ich mich um meine eigene Achse, um das volle Ausmaß des Raumes einsaugen zu können. Deckenhohe Bücherregale an allen vier Wänden, ein antiker Kamin und Fenster erst in der offenen, zweiten Etage. Eine alte Leiter lehnt gegen dem ersten Regal, an schienen kann man sie entlang schieben. In der Mitte vor dem Kamin hat man eine Gruppe Sofas platziert, einen Couchtisch auf dem gestapelte Bücher verteilt sind. Und eine Wendeltreppe führt auf die Empore hinauf.

»Das müssen ja tausende Bücher sein«, staune ich. »1587, um genau zu sein«, korrigiert er mich und winkt mich zur Wendeltreppe. »Hast du die alle gelesen?«, muss ich einfach fragen. Es verschlägt mir die Sprache. Wir gehen die eiserne Treppe nach oben auf die Empore. Von hier sieht man den Regen durch die geschwungenen Fenster. Die Tropfen rinnen über die Scheiben, der Wind peitscht das kühle Nass hörbar gegen das Haus. Dabei hat vorhin noch die Sonne geschienen.
»Nicht alle. Aber die ersten drei Regale hier oben. Unser ältestes Buch stammt aus dem achtzehnten Jahrhundert und ist aus Florenz.«
»Beeindruckend. Das älteste was ich von meiner Familie besitze ist meine Babydecke«, Scherze ich. Doch ich sehe, wie der Ausdruck auf seinem Gesicht sich kurz ändert. Seufzend lehne ich mich gegen das Geländer, stehe mit dem Rücken zum Luftraum und sehe den attraktiven Russen an. »Danke für die Führung, es war sehr schön. Deine Familie ist so... nah beieinander, das hatte ich nie«, wispere ich und wende das Gesicht zum Boden. Miros Schuhe tauchen in meinem Sichtfeld auf, er steht nun nah vor mir. »Meine Familie ist chaotisch und die Hälfte meiner Verwandten hat einen Dachschaden«, versucht er mich aufzumuntern und grinst schief. Und es funktioniert.
»Du meinst deine Cousinen, die aussahen als wollen sie mich erschießen?«, lache ich leise und lege den Kopf in den Nacken. Miro nickt.
»Genau die.«
Sein Oberkörper bebt unter seinem Lachen auf.
»Sie-«
Wir werden unterbrochen. Es klopft laut an der Tür. Miro versiegelt seine Lippen, lehnt sich neben mir über das Geländer, um einen Blick auf die Tür zu erhaschen. »Was ist?«, ruft er hinunter. »Ihre Mutter lässt mich ausrichten, dass sie beide zum Essen kommen sollen. Ihr Vater ist eingetroffen«, ertönt eine liebliche Stimme aus dem Flur. »Sag ihnen wir sind unterwegs«, bittet Miro die Frau.
»Sehr wohl, aber sie sollten sich beeilen.«
»Gehen sie schon...«, verlangt er. Darauf sind Schritte zu hören. Miro richtet sich auf, atmet tief durch und sieht mich an. »Lass uns essen gehen. Schließlich muss ich dich dann pünktlich am Hotel absetzen«, sagt er. Mir wird ganz anders als er meine Abreise erwähnt.

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