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Elena

Zwei qualvolle Tage sind vergangen. Schlaflose Nächte und mein verstimmter Magen haben mir Sorgen bereitet. Aber die größte, mache ich mir um das etwas in mir. Jedes Gericht, welches ich zu mir nehme, findet schneller wieder einen Weg in die Kloschüssel, als das ich es gegessen habe. Nur Tee und stilles Wasser bekommt mir. Ab und zu ein Stück Baguette. Meinen Vater habe ich seit dem Vorfall beim Frühstück nicht gesehen. Ab und zu höre ich, wie er sich bei den Männern vor meiner Tür erkundigt und wieder geht. Die meiste Zeit bin ich allein, es ist besser so. Besser für alle. Es zerreißt mich fast, dass ich nichts tun kann, um zu entkommen. Das ich kein Telefon gefunden habe, um Lynn, Stacy oder Miro zu kontaktieren. Das ich ihm ausgeliefert bin.
Nachdenklich liege ich unter der Bettdecke und beobachte die Sonne. Langsam, aber sicher wird sie eins mit dem Horizont. Obwohl es schon Abend ist, habe ich es nicht aus dem Bett geschafft. Wenn ich die Augen schließe, stelle ich mir den gut-aussehenden Russen vor. Wie er mich küsst und mich hält. Ich brauche ihn mehr als alles andere. Die zwei Wochen in Sankt Petersburg sind unvergesslich gewesen. Die Nächte, die wir miteinander verbracht haben, lassen sich nicht aus meinen Gedanken vertreiben. Bei ihm habe ich mich geborgen und sicher gefühlt. Als würden wir uns schon Jahrhunderte kennen. Als wären wir füreinander geschaffen. Seine funkelnden Augen, wenn er mich angesehen hat und die Dinge, die er zu mir gesagt hat. Er hat einen besonderen Platz in meinem Herzen eingenommen. Den niemand einnehmen könnte.
Müde zwinge ich mich, die Augen offen zu halten. Es ist zu früh, um zu schlafen. Ein wenig will ich noch den schönen Sonnenuntergang betrachten, bevor ich ins Land der Träume falle. Eingewickelt in der Decke liege ich da, habe die Beine angezogen und die linke Hand unter meinen Kopf geschoben. Meine Haare liegen quer hinter mir auf dem Kopfkissen verteilt. Der feine Stoff schmiegt sich an mein Gesicht.

Zum zweiten Mal heute klopft es an meiner Tür. Ob es schon wieder die Haushälterin ist, die mir frischen Tee bringt?
»Herein.«
Die Tür schwingt geräuschlos auf. Es folgen keine Schritte. Derjenige muss noch im Flur stehen.
»Ihr Vater wünscht sie unten beim Essen.«
Es ist Antonio, der spricht.
»Dann sagen sie ihm, dass ich keinen Hunger habe.«
»Er besteht darauf.«
»So wie ich auf ein Flugticket«, kontere ich. Antonio räuspert sich. »Kommen Sie? Oder muss ich Sie tragen?«, warnt er mich. Genervt seufze ich auf. Ich hasse es hier. »Schon Gut, darf ich mich wenigstens noch umziehen?«, brumme ich sauer und richte mich auf. Die rechte Hand meines Vaters nickt. »Zehn Minuten, ich warte vor der Tür.«

Klasse. Er muss also immer noch meinen Babysitter spielen. Hat er nichts Besseres zu tun, als mich zu beaufsichtigen? Ich frage mich ernsthaft, was die Männer hier tun, wenn ich schlafe. Langsam quäle ich mich ins Badezimmer, greife mir auf dem Weg frische Kleidung aus dem Schrank, der für mich bestückt worden, ist. Nicht viel, aber wenigstens etwas. Ich werfe mir ein frisches Oberteil über, dazu eine Leggings und schwarze Socken. Meine Haare lasse ich offen über die Schultern fallen, käme sie schnell mit der Bürste neben dem Waschbecken durch.
Gegenüber meiner Zimmertür im Flur wartet Antonio an die Wand gelehnt. Er hält die Hände in den Hosentaschen vergraben, mustert mich auffällig.
»Können wir?«, vergewissert er sich. Als ob ich den Weg nicht allein finde. Kindergarten. Ich werfe einen flüchtigen Blick auf die zwei Männer beidseitig neben mir, nicke.
»Ja, wir können.«
Stumm deutet er mir zu folgen. Ein paar Schritte hinter ihm durchquere ich den Flur, die Treppen hinab durch die Halle. Bereits im Wohnzimmer sehe ich den gedeckten Tisch auf der Terrasse. Skeptisch halte ich Ausschau nach meinem Vater. Ich entdecke ihn am Tisch sitzend. Er wartet sichtlich auf mich. Die Sonne ist bereits untergegangen, als ich nach Antonio die warmen Terrassenplatten betrete. Vaters Blick fällt sofort auf mich.
»Schön, dass du hier bist«, begrüßt er mich ganz höflich. Seine Stimme ist ungewöhnlich ruhig und ausgeglichen. Wie lange das wohl so bleiben wird?
Er deutet auf den Stuhl ihm gegenüber. Ich sinke hinab, begutachte das Essen zwischen uns. Der Tisch ist reichlich gedeckt, erweckt meinen Hunger langsam. Innerlich bete ich, dass es diesmal in mir bleibt. Vielleicht habe ich Glück und mir wird nicht speiübel.
»Denk nicht das ich freiwillig hier bin. Antonio hat mir gedroht«, murmle ich ehrlich. Mein Vater sieht mit gehobenen Augenbrauen zu deinem Angestellten, bevor seine Mundwinkel belustigt zucken. »Soso... Danke das du Sie hergebracht hast Antonio«, bedankt er sich bei ihm. Still nickt dieser erkenntlich, neigt dabei den Oberkörper ein Stück nach vorn.
»Guten Appetit«, wünscht er uns. Er verschwindet in die Dunkelheit.
Vater, dessen echten Namen ich noch immer nicht kenne, bietet mir den Brotkorb an. »Schlag zu, es gibt reichlich davon«, drängelt er mich. Skeptisch lange ich nach zwei Scheiben Baguette. Bitte lieber Gott lass mich nicht kotzen!
»Ich habe ein paar Fragen.«
Ich finde es richtig, wenn ich es von Anfang an klarstelle.
»Und ich will antworten darauf.«
Mein Vater lacht.
»Sicher doch, sprich nur«, fordert er mich auf. Mit dem silbernen Buttermesser in meinen Händen trage ich hauchdünn Butter ab.
»Was hat meine Tante mit den Rochevskos zu tun? Wieso hasst du Sie so?«, kommt es mir fragend über die Lippen. Dabei bestreiche ich mein Baguette mit Butter. Der Italiener mir gegenüber lehnt sich im Stuhl zurück und trinkt einen Schluck. Atmet schwer aus.
»Meine Schwester Maria war sechzehn als Sie einen Jungen kennengelernt hat. Er war zu der Zeit neunzehn und hat hier Urlaub gemacht. Es ist schon eine Ewigkeit her...« Er unterbricht sich selbst, um hart zu schlucken. Ich sehe, wie schwer ihm dieses Thema fällt. Trotzdem fährt er fort.
»Maria war wunderschön«, lacht er traurig, »und sie stand auf ihn. Gott sie war so verknallt in ihn«, lacht er weiter. Er kämpft mit sich, das sehe ich deutlich. Seine Fäuste zieht er unter den Tisch, legt sie auf seinen Beinen ab.
»Er war mir von Anfang an nicht geheuer, ich habe meine Schwester vor ihm gewarnt, aber sie wollte das nicht wissen. Ich war für sie nur der ältere, zu viel sorgen machendende Bruder, der sie genervt hat. Die beiden sind viel unterwegs gewesen. Eines nachts ist sie nicht nachhause zurückgekehrt. Sie hatten einen Autounfall und wurde schwer verletzt. Seitdem sitzt sie im Rollstuhl und braucht bei allem Hilfe. Sie bekommt fünfmal pro Tag starke Schmerzmittel, schläft fast nur. Es bringt mich, um Sie so zu sehen... meine kleine Schwester...«

Mir hat es ehrlich die Sprache verschlagen. So in sich gekehrt erlebe ich ihn gerade das erste Mal. Zwar versucht er, den Schmerz zu verbergen, aber seine waldgrünen Augen, die meinen zum Verwechseln ähnlich sind, können es nicht verheimlichen. Er leidet. Schluckend berühre ich meinen flachen Bauch unter dem Tisch. Der Gedanke daran das es jede hätte passieren können, auch mir, ist unbeschreiblich. Ich kann mir nicht vorstellen, wie sehr sie leiden muss.
»Trotzdem verstehe ich nicht, was das mit Miro zu tun hat...«, gebe ich zu. Verwirrt sehe ich meinem Vater in die Augen, der nur schnaubt.
»Einer von seiner Sippe war es. Dieser dreckige Zakhar ist den Wagen gefahren!«
Wie bitte? Wer? Ich bin nur noch verwirrter als ohnehin schon. »Ich verstehe die Welt nicht mehr«, gebe ich zu. »Das war ja klar!«, schnauzt mein Vater mich ohne Vorwarnung an. Verwundert weite ich meine Augen. Sein Stimmungswechsel macht mir Angst. Sein angewiderter Blick mir gegenüber, lässt mich erschaudern.
»Erst fickst du diesen Typen und jetzt bekommst du auch noch ein Kind von ihm!«
Er knallt seine Faust auf den Tisch. Ich zucke zurück. Wutentbrannt erhebt er sich, stützt die Arme auf die weiße Tischdecke. »Merke dir eins, Elena, dieser Bastard wird nie mein Enkel sein!«
Seine Worte treffen mich eiskalt. Ich reiße die Augen auf, schnappe sprachlos nach Luft. »Wie bitte?«, stoße ich hervor. Hat er das gerade wirklich gesagt? Mein eigener Vater? Entsetzt stehe ich auf. Der Stuhl rutscht über die mediterranen Fließen nach hinten. Mein Buttermesser fällt mir aus der Hand. Fassungslos schüttle ich den Kopf, umschlinge meinen Bauch schützend. Seit ich weiß, dass es da drin ist, verspüre ich das plötzliche Gefühl, es beschützen zu müssen. Obwohl ich es weder gesehen noch gespürt habe. Der Gedanke reicht.
»Du tust mir gerade das selbe an, wie deine Eltern Mom und dir angetan haben! Merkst du das eigentlich?«, pfeffere ich zurück. Merkt er nicht, was er da tut? Er zwingt mich zu etwas, das ich nicht will. Er zwingt mich, in Italien zu bleiben, ohne Miro eine Chance zu geben von diesem Kind zu erfahren. Ist er vollkommen übergeschnappt? Ich spreche aus, was mir gerade in den Sinn kommt. Selbst wenn ich mit meinen nächsten Worten die Grenze weit überschreite. Es ist mir egal.
»Willst du etwa das ich so Ende wie Mom?!«
Ich verlange keine Antwort, sondern verschwinde einfach zurück in mein Zimmer. Auf dem Weg höre ich seinen wutentbrannten Schrei, das scheppern der guten Porzellanteller, die so laut brechen wie mein Herz.

Saints and SinnersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt