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Elena

»Nein!«, kreische ich panisch. »Bitte!«, flehe ich, zapple in Lews Armen wie wild. Ich trete verzweifelt um mich. »Bitte tue es nicht!«, schluchze ich. Vater hat seine Waffe gegen Miro gerichtet und den Finger am Abzug. Miros Waffe liegt auf dem Boden.
»Wenn ich dir wirklich etwas bedeute...«, beginne ich und versuche aus Lews Armen zu entkommen, »dann verschonst du ihn!«
Es wird ruhig, keiner sagt etwas. Qualvolle Sekunden vergehen, in denen sich keiner regt. Mittlerweile habe ich es aufgegeben, mich wehren. Gegen Lews festen Griff kann ich nichts ausrichten. Der Italiener schnaubt. Er sieht zu Miro, dann zu mir.
»Komm schon Danielo, ich habe keine Ahnung was hier los ist«, versucht, Miro ihm klarzumachen. Danielo, der Name meines Vaters. Ich habe in Miros Augen gesehen, dass er wirklich nicht weiß, worüber mein Vater gesprochen hat. Das scheint er ihm aber nicht abzunehmen.
»Rede dich nicht raus, Zakhar hat sie zu einem Wrack gemacht!«, brüllt der Italiener. Miros sieht zu seinem besten Freund, der mich festhält. Die Verwirrung in seinen Augen steigt ins Unermessliche.
»Danielo ernsthaft, ich habe keine Ahnung von was du sprichst! Zakhar ist nicht mal mit mir verwandt!«, beteuert er. Nun runzelt sich auch die Stirn meines Vaters. »Du hast echt keine Ahnung, Rochevsko. Keinen blassen Schimmer...«, wird ihm klar. Mit klopfendem Herzen sehe ich zwischen den beiden her. Hoffentlich tut Vater nichts Dummes. Sollte er auf Miro schießen, wird es mir das Herz aus der Brust reißen. Er hat mir gestanden, das er mich liebt. Und ich wollte ihm sagen, wie sehr ich ihn liebe. Doch dazu bin ich nicht gekommen.
»Natürlich habe ich den nicht. Wärst du jetzt so verfickt freundlich und würdest endlich diese Knarre aus meinem Gesicht nehmen?«
Mein Vater grummelt, lässt sie aber sinken. Erleichtert lasse ich Lews Arm los. Innerlich danke ich Gott, dass er ihn verschont hat. Nun bemerke ich auch endlich, wie übel mir mittlerweile ist.
»Lew lass mich los...«, bitte ich ihn leise.
»Nein«, bekomme ich als Antwort.
»Bitte mir ist schlecht, ich denke nicht das du kotze auf deinen Schuhen haben willst«, erkläre ich ihm. Das scheint zur wirken. Seine Arme verschwinden um mich, ich schlage mir schluckend die Hand vor den Mund.
»Ich will euch ungern unterbrechen...«, nuschle ich blass, »aber ich muss mich gleich übergeben und ich würde bevorzugen, dies in einem Badezimmer zu tun und nicht am Straßenrand.«
Miros besorgte Augen Mustern meine blasse Erscheinung. Er weiß noch nicht, wieso es mir so scheiße geht. Aber er soll es heute noch erfahren.
»Also bitte ermordet euch nicht gegenseitig. Bitte
Danielo nickt mit aufeinandergepressten Lippen. »Wir sollten uns unterhalten Rochevsko. Ohne Waffen«, schlägt er vor. Sein plötzlicher Meinungswechsel überrascht mich. Will er etwa doch einen friedlichen Weg finden? Miro stimmt nickend zu. Und ich nähere mich dem Tor. Während mein Vater und Miro in dessen Büro abbiegen, finde ich gerade rechtzeitig den Weg zur Toilette.

Fünfzehn Minuten später schaffe ich es auch zu den beiden. Helene hat mir gezeigt, wo sein Büro liegt. Es ist groß und hell, hat Ausblick auf den Springbrunnen. Viele alte, antike Sachen stehen in den Vitrinen und Regalen, eine hölzerne Miniatur eines Segelschiffs auf der Kommode neben der Tür. Miro steht neben dem Kamin, Vater vor dem Fenster. Beide schweigen sich eisern an. Die Stimmung ist angespannt und unangenehm. Ich bin froh, dass sie sich nur mit den Augen erdolchen. Tief ausatmend stecke ich meine Hände in die Taschen meiner Jeans, am Po.
»Da wäre ich.«
Beide Augenpaare liegen auf mir.
»Geht es dir besser?«, erkundigt Miro sich.
Ich nicke still.
Danielo schnaubt.
»Erzähl ihm doch, wieso es dir so geht«, fordert er mich selbstgefällig auf. Wenn Blicke töten könnten, wäre er jetzt tot. Muss das sein? Ich wolle es ihm privat sagen, sobald wir hier weg sind, und nicht vor meinem Vater. »Als erstes erklärst du ihm das mit Tante Maria«, fordere ich ihn auf.
»Na schön.«
Er knallt sein Glas laut auf den Schreibtisch, öffnet die obere Schublade seines Schreibtisches ruppig. Hinaus zieht er ein altes Bild, stampft auf uns zu und drückt es Miro in die Hand. Neugierig nähere ich mich ihm, um einen Blick darauf zu werfen. Es zeigt Maria und einen jungen Mann. Auf der Rückseite steht M&Z 89 geschrieben.
»Ist das Zakhar?«, hinterfragt Miro. Mein Vater nickt.
»Du kennst ihn. Aber offensichtlich wusstest du nicht, dass er dein Onkel ist.«
Ahnungslos schüttelt der dunkelhaarige Russe den Kopf.
»Mein Vater hat nie erzählt, dass er einen Bruder hat.«
Wieder schüttelt Miro den Kopf.
»Nein, er redet nicht viel über seine Vergangenheit. Und was hat er jetzt mit Elenas Tante zu tun?«
Danielo läuft langsam im Raum auf und ab.
»Die beiden waren ein Paar, Ende der achtziger. Zakhar hat das Auto gegen eine Betonwand gefahren, seitdem sitzt meine Schwester im Rollstuhl. Meine Eltern haben mit allen Mittel erzwungen, das er sich ihr nie mehr nähern darf. Seitdem haben die beiden sich nicht mehr zu Gesicht bekommen. Sie hat jeden Tag unglaubliche schmerzen nur wegen ihm.«
In seiner Stimme schwingt Zorn und Ärger. Er muss sie sehr lieben.
»Dann lasse das nicht an uns aus«, mische ich mich leise ein, ergreife symbolisch Miros Hand. Danielos angewiderter Blick liegt auf unseren verschlungenen Händen. »Ich werde nicht zulassen das er dir auch schadet. Diese Familie bedeutet Unheil, Elena! Willst du so enden wie deine Tante?«, fährt er mich zischend an. Ich zucke erschrocken zusammen. Atme ein, balle meine rechte Hand zur Faust und straffe die Schultern, um mir etwas Selbstbewusstsein zu verschaffen.
»Nein will ich nicht. Aber auch nicht so wie Mom. Ob du willst oder nicht, durch die Adern deines Enkels fließt auch sein Blut.«
Ich meine jedes einzelne Wort todernst. Soll er uns doch zum Teufel schicken, ich werde meine Meinung nie ändern. Ich liebe Miro.
»Du bist schwanger?«, ertönt seine ungläubige, raue Stimme schräg neben mir. Ich sehe zu ihm auf und nicke unsicher. Seine Augen starren zu mir hinab.
»Wirklich?«, erfragt er ein zweites Mal.
»Ja«, krächze ich den Tränen nahe. Ein Schluchzen verlässt meine Lippen, als ich mir über die Wange fahre und mich zu Danielo wende. Miros Blick brennt sich in meine Haut. Ich spüre, wie seine Hand sich fester um meine schließt, wie die Antwort auf meine Worte. »Also lass uns endlich gehen, Vater. Mir wird nichts passieren...«, beteure ich entmutigt. Was kann ich noch tun, um ihn umzustimmen?

»Ich verstehe das Sie ihre Tochter nur beschützen wollen«, schaltet Miro sich ein und tritt einen Schritt nach vorn, »deswegen verspreche ich ihnen, dass ich auf sie aufpasse. Das mache ich mir schon zur Aufgabe, seit wir uns kennen. Vielleicht wissen Sie nicht, dass ich Elena in Sankt Petersburg davor bewahrt habe, entführt zu werden«, erzählt er. Danielos Kopf schnippt in die Luft. Er sieht zu mir, versucht herauszufinden, ob stimmt, was er sagt. Ich nicke.
»Von wem?«, verlangt er zu wissen.
»Zakhars Männern. Ich habe mich darum gekümmert. Und nun wird mir klar, wieso er versucht hat, sie zu entführen. Er wollte sich an ihnen rächen. Dafür das er Maria nie mehr zu Gesicht bekommen hat.«
Tatsächlich scheint es plötzlich alles einen Sinn zu machen. Der rote Faden zieht sich durch alles, was mir in den letzten Wochen widerfahren ist. Der Auslöser war der Unfall vor zweiunddreißig Jahren. Der Auslöser ist das Verbot, Maria wiederzusehen. Damit hat alles angefangen, und damit wird es enden.

Plötzlich weiß ich ganz genau, was passieren muss, um Ruhe in die Sache zu bekommen.
»Ich habe eine Idee«, teile ich ihnen mit. Ich lasse Miros Hand los, lange nach dem Bild in seinen Händen und deute darauf.
»Dieser Streit bringt niemandem etwas. Am Ende wird Blut fließen, und das möchte ich nicht. Keiner soll mehr leiden in diesem Streit. Vielleicht musste es so weit kommen damit alle begreifen, wie sinnlos es ist, sich wegen einer Sache in den Haaren zu haben, die vor so langer Zeit passiert ist. Wir sollten die beiden zusammenbringen. Wenn Zakhar sich nach all den Jahren noch dafür rächen will, dann muss er Maria wirklich geliebt haben.«
Zwischen den beiden sehe ich umher. Mir ist klar, dass beide Sturköpfe und temperamentvolle Männer sind, weswegen keiner von ihnen klein bei geben wird. Ich lasse Miros Hand los, gehe langsam auf Vater zu.
»Bitte, Papa. Tue es für mich. Du kannst mich gehen lassen und mit eigenen Augen sehen, dass es mir gutgehen wird. Maria kann wieder glücklich werden. Ich verspreche, dass ich dich besuchen werde...«
Vorsichtig berühre ich seinen Arm. Blinzelnd neige ich den Kopf in den Nacken, um ihm in die Augen zu sehen.
»Bitte... Ich liebe ihn sehr.«
Er ringt mit sich, wirft Miro skeptische Blicke zu, mustert ihn genau. Er stöhnt genervt aus und wendet ihm den Finger zu.
»Wenn du nur einmal scheiße baust, Juwelendieb, dann bist du tot.«
Miro hebt die Hände und grinst minimal.
»Ich werde es mir merken. Außerdem bin ich kein Dieb, sondern Händler.«
Danielo winkt genervt ab.
»Wie auch immer Rochevsko, sorg lieber dafür das ich Zakhar nicht umbringe, wenn er herkommt.«
Erfreut quietsche ich auf und werfe mich ihm um den Hals. Ich knutsche seine Wange ab, schlinge meine Arme, so fest ich kann, um ihn. Es ist unsere erste Umarmung. Er braucht eine Sekunde, bevor er sie erwidert und mich an sich presst.
»Du bist alles für mich Elena, auch wenn ich dir das nie zeigen konnte.«
In diesem Moment spüre ich all die Liebe, die er mir geben kann, sie umhüllt mich wie ein Kokon. Ich spüre, dass nun alles besser werden wird.

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