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Elena

Noch in derselben Nacht habe ich gehört, wie mein Vater wutentbrannt das Haus verlassen hat. Davor sind mehr Geschirr und Porzellan zu Bruch gegangen, als das ich es hätte zählen können. Selbst am nächsten Morgen, habe ich ihn nicht, zu Gesicht bekommen. Antonio war vor einer Stunde bei mir und hat mir erlaubt, mit allein unten aufzuhalten. Erst jetzt traue ich mich aus meinem Zimmer.
Die zwei Männer, die zuvor an meiner Tür gestanden haben, sind verschwunden. Habe ich etwas verpasst? Verwundert schaue ich mich im leeren Flur um. Neben ein paar Kunstwerken und Skulpturen ist es völlig leer. Mit einem Ohr höre ich unten das leise knirschen von zerbrochenem Geschirr. Ich folge dem Geräusch die Treppen nach unten. In der großen Halle ist es angenehm kühl. Durch das schmale Glas in der Haustür sehe ich etliche Männer im Vorgarten. Meinen Plan einfach durch diese Tür zu spazieren, wenn keiner hinschaut, verläuft somit auch im Sand. Mist.
In der offenen Küche sehe ich die schlanke Haushälterin auf dem Boden knien, über den Scherben der zerbrochenen Teller. Im Türrahmen stehend, räuspere ich mich schüchtern. Bis jetzt habe ich noch nie ein Wort mir ihr gewechselt, doch sie scheint immer sehr nett, wenn sie mir mein Essen aufs Zimmer bringt. Überrascht sieht sie zu mir auf, dann wieder zu den Scherben.
»O... ist alles in Ordnung Signora?«, fragt sie angestrengt in perfektem Englisch. Verwundert weite ich die Augen, fange mich aber schnell wieder. »Ich... kann ich ihnen behilflich sein?«, erkundige ich mich. Sofort schüttelt sie energetisch den Kopf.
»Nein, nein, setzen Sie sich, ich mache das schnell und dann gibt es Frühstück. Entschuldigung für das Chaos.«
Sie entschuldigt sich für meinen Vater? Ich überquere den verlegten Schachbrettboden, knie mich zu ihr auf den Boden und hebe die großen Scherben auf.
»Nicht, setzen sie sich. Bevor sie sich noch wehtun«, seufzt die Dame.
»Ach quatsch, zu zweit geht es viel schneller«, beteure ich und schenke ihr ein schmales Lächeln. Sie erwidert es zögerlich.
»Danke«, wispert sie mir zu. Nickend kehre ich die Scherben auf die rote Kehrschaufel.
»Woher können Sie so gut Englisch sprechen?«, frage ich neugierig nach. Sie klemmt sich ihre Haare hinter die Ohren, schüttet die volle Schaufel in den Mülleimer. »Ich habe in Manchester als Au Pair gearbeitet. Da habe ich es gelernt«, erzählt sie. Jetzt wird mir einiges klar. »Sie sprechen sehr gut. Es ist schön jemanden hier zu haben, der nicht bei jedem zweiten Wort zu Italienisch wechselt«, scherze ich. Ich entlocke ihr ein kleines kichern.
»Ja, das stimmt.«
»Wie lang arbeiten Sie schon für meinen Vater?«
»Seit zehn Jahren, er ist ein sehr guter Arbeitgeber«, sagt sie. Nickend kehre ich die letzten Scherben auf.
»Wissen sie, wohin er gegangen ist?«, erkundige ich mich neugierig. Skeptisch schaut sie auf die Digitaluhr um ihr Handgelenk und nickt.
»Er ist wie immer heute bei seiner Schwester in der Stadt.«
Bei Maria, meiner Tante. Die von die er mir gestern erzählt hat. Er muss sie sehr lieben.
»Verstehe, haben Sie schon mit ihm gesprochen? Ist er noch sehr wütend?«
»Er wirkte verärgert heute Morgen als ich ihn sah. Gesprochen habe ich noch nicht mit ihm.«
»Verstehe...«

Seufzend erhebe ich mich vom nun wieder scherbenfreien Boden. Ich sinke auf den mir am nächsten Stuhl. Meinen linken Unterarm lege ich auf der Platte des Esstischs ab.
»Was möchten Sie essen?«, fragt die nette Italienerin mich. Ihr glatten schwarzen Haare bindet Sie zu einem lockeren Zopf zusammen, wäschst sich die Hände. Der Mülleimer mit den Scherben hat seinen Platz wieder neben dem Kühlschrank gefunden.
»Etwas von der köstlichen Melone reicht mir vollkommen«, antworte ich ihr lächelnd. Sie scheint mir eine der wenigen hier, wenn nicht sogar die Einzige, die aufrichtig freundlich zu mir ist. Das schätze ich. Nickend dreht sie sich auf dem Absatz zum Kühlschrank um. Eine große Schüssel Melone kommt in ihren Händen zum Vorschein, nachdem sie ihn wieder geschlossen hat. Sie stellt sie vor mich auf den Tisch, reicht mir eine weiße Schüssel und eine Gabel. Dankend nehme ich mir eine große Portion der süßlichen Melone und lehne mich zurück. Die Früchte schmecken hier viel süßer und weicher. Nicht so wässrig wie zuhause in London. Erst jetzt fällt mir der enorme Unterschied auf. Die rote Wassermelone zergeht mir auf der Zunge.
»Mein Name ist übrigens Helene«, stellt die Frau sich mir offiziell vor. Sie stellt ein Glas Orangensaft auf den Tisch vor mir, schenkt mir ein ehrliches Lächeln.
»Elena, freut mich.«
»Mich ebenfalls. Rufen Sie, wenn Sie etwas brauchen, ich werde kurz die Wäsche machen gehen«, entschuldigt sie sich. Mit vollem Mund nicke ich und wende meine Augen Richtung Fenster. Durch die großen Scheiben kann ich weit über die Terrasse bis auf den Turm der Santa Maria del Fiore schauen. Wie auch die letzten Tage ist es sehr warm und sonnig. Es scheint mir, als würde es hier nie Herbst werden. Dabei ist es schon Mitte September.
Nach dem Frühstück stehe ich wieder an der steinernen Brüstung und betrachte die Stadt im Schutz der Sonne, unter einem der Äste der großen Bäume stehend. Hier ist es auszuhalten. Der Springbrunnen plätschert beruhigend im Hintergrund, eine leichte Brise weht mir um die Ohren. Die Luft über der Stadt flimmert in der Hitze. Ich erkenne die vielen Autos, die sich durch die Stadt drängen, aber höre sie kaum. Hier oben ist es friedlich. Wenn ich meinen Kopf nach hinten drehe und weit über das Haus blicke, erkenne ich die vielen Weinberge vor mir. Sie müssen sich vom Haus bis zum Berg erstrecken. Ich kann mir nur schwer vorstellen wie viele Pflanzen es sein müssen. Beeindruckend. Und dies soll alles meiner Familie gehören? Dies soll Vaters Imperium sein? Schwer vorzustellen.

Vor dem Haus höre ich plötzlich laute Stimmen. Mit gerunzelter Stirn versuche ich durch die offene Küche bis zur Haustür blicken zu können. Vergeblich. Die Stimmen machen mich schrecklich neugierig. Wie von selbst setzen sich meine Beine in Bewegung, schreiten über die Terrasse ins Wohnzimmer. Von dort bis in die Halle. Helene folgt mir mit ihren Augen. Sie kocht gerade etwas.
»Elena?«, fragt sie skeptisch. Ich reagiere nicht. Das ist meine Chance, hoffe ich. Im Flur steht der volle Mülleimer, den sie leeren wollte. Ich lange hinein, greife mir eine große Scherbe. Sofort schneidet sich das spitze Porzellan in die Innenfläche meiner Hand.
»Elena!«, wird sie lauter. Ich strecke meine andere Hand zur Klinke aus, drücke Sie und reiße die Haustür auf.

Vor mir erstreckt sich ein langer Vorgarten, dahinter eine hohe Mauer und ein großes Tor. Ich traue meinen Augen kaum, als ich seine dunklen Haare erblicke. Mein Herz setzt einen Schlag aus. Zwischen uns stehen bestimmt zwanzig Männer, mit Miro diskutieren. Von meinem Vater ist nichts in Sicht. Aber Miro ist wirklich hier. Er hat mich gefunden.
»Miro?«, frage ich ungläubig. Alle Augen landen auf mir. Zwei der Männer, die mir bekannt vorkommen, machen einen Schritt auf mich zu. Der eine spricht aufgeregt in ein schwarzes Funkgerät. Verdammt, sie verständigen meinen Vater.
»Bleibt stehen!«, zische ich den Kerlen zu. Es sind die, die meine Zimmertür bewacht haben. Sie halten tatsächlich inne. Tief durchatmend gehe ich die Stufen nach unten und hebe meine linke Hand mit der Scherbe an. Mein Blut tropft auf die Sandsteine.
»Ihr wollt doch meinem Vater nicht erklären müssen, dass seine Tochter sich erstochen hat, oder?«, warne ich sie. Helene hinter mir, schnappt nach Luft. Drohend halte ich mir die Scherbe gegen das Glas. Mir wird schlecht, ich schwitze kalt. Stress durchströmt meine Adern.
Meine Augen liegen wieder auf Miro, der nur mit dem Kopf schüttelt. Neben ihm erkenne ich Lew und Stefan. Die anderen die er mitgebracht hat, kenne ich nicht. Er schüttelt nur ungläubig den Kopf.
»Mach keine Dummheiten Mädchen«, rät mir einer von Vaters Männern. Selbstbewusst gehe ich auf sie zu.
»Macht das verdammte Tor auf!«, zische ich wutentbrannt. Das ist meine einzige Chance. Und wenn ich mir dafür das Porzellan in den Hals rammen muss. Wenn ich es jetzt nicht schaffe hier wegzukommen, dann vermutlich nie. Miro ist hier und ich werde mit ihm fahren. Etwas anderes kommt für mich nicht infrage.
»Ihr habt Sie gehört! Öffnet das Tor!«, ruft Miro. Keiner der Männer regt sich von ihren Posten.
»Muss ich mich erst abstechen?«, schreie ich sie an. Ich komme meiner Halsschlagader gefährlich nah, während ich spreche. Der neben dem Tor scheint der Erste zu sein, der mich ernst nimmt. Er hebt die Hände langsam.
»Schon gut, beruhig dich...«
»Einen Scheiß werde ich! Ihr könnt nicht auf mich schießen! Sonst bringt mein Vater euch um. So oder so wird einer von euch dafür büßen müssen. Also überlegt euch genau, wer nicht seinen Arsch dafür hinhalten will!«, schreie ich. So wütend wie in diesem Moment war ich noch nie. Zwischen den Männern stehend kehre ich dem Tor dem Rücken und sehe zwischen ihnen her. Einer von ihnen wird einbrechen, es ist nur eine Frage der Zeit.
Bestimmt wird es der Junge am Tor sein, der kaum älter als ich auszusehen scheint.
»Ihr Vater wird gleich hier sein!«
»Das ist mir egal! Macht das verdammte Tor auf!«

Ich drücke mir die Scherbe demonstrierend gegen die Haut. Keuchend bohrt sie sich Millimeter in meine Haut. Nicht tief genug, um mich ernsthaft zu verletzen, aber genug, um mich zum Bluten zu bringen. Ich könnte mich gerade selber dafür beglückwünschen. Meine Ausbildung als Krankenschwester kommt mir doch noch zugute. Und keiner dieser Idioten weiß, was ich tue.
»Elena! Mach das nicht!«, fleht Miro hinter mir. Es fällt mir schwer, seine Stimme auszublenden. Er klingt so flehend, dass ich fast die Beherrschung verliere.
»Sei still!«, herrsche ich ihn an. Er bringt mich durcheinander. Meine Lippen beginnen zu zittern, mir wird schwindelig.
»Macht das Tor auf! Sonst seid ihr daran schuld, das heute gleich zwei Menschen sterben!«
Es ist meine letzte Drohung und die scheint zu wirken. Plötzlich erklingt das Summen des Tores. Ich verschwende keine Minute, lasse die Scherbe an Ort und Stelle fallen und stürme durch das Tor auf Miro zu. Ich werfe mich ihm in die Arme und beginne zu weinen. Bitterlich zu weinen. Meine Emotionen überrennen mich förmlich. So fest ich kann, schlinge ich meine Arme um seinen Hals, spüre, wie er mich näher zieht. »Du bist verrückt, verdammt«, flüstert er mir überglücklich ins Ohr. Lachend vergrabe ich mein Gesicht an seinem Hals. Meine Wunden sind mir im Moment total egal. Jeder Millimeter meines Körpers, hat sich nach ihm gesehnt. Es fühlt sich alles unreal an. Ich habe fast keine Hoffnung mehr gehabt, dass ich ihn je wiedersehen würde. Schniefend halte ich mich an ihm fest, vergrabe meine Hand in seinen Haaren.
Er legt seine an meinen Hinterkopf, küsst meine Wange. Kurz erhasche ich einen Blick auf sein Gesicht, er sieht erleichtert aus. Seine warme Hand umgreift meine Wange, sein Daumen streicht mir jede einzelne Träne von der Wange. Dabei drückt mich sein Arm am Rücken so fest an sich, dass ich seine Bauchmuskeln durch den Stoff unserer Kleidung spüren kann.
»Verdammt, ich liebe dich so sehr Elena.«

Saints and SinnersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt