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Miro

Es kommt mir wie ein Flashback vor, welches mich zurück in die letzte Woche katapultiert. Ich stehe vor dem Spiegel in Vladislavs Herrenschneiderei, stecke in einem Anzug, welchen er gleich mit Nadeln bearbeiten wird. Die Ärmel sind zu lang und die Hosenbeine zu weit. Da ich seine Arbeit schon eine lange Zeit kenne, weiß ich das er sie mit Absicht weiter macht, um sie dann perfekt kürzen zu können.
»Einen Moment noch, das Nadelkissen ist heute spurlos zwischen den Stoffen verloren gegangen«, entschuldigt Vlad sich, wühlt aufgeregt auf seinem Tisch. Still beobachte ich ihn durch den Spiegel, tippe mit meinen Fingern gleichmäßig gegen die Anzughose. »Miro?«, erklingt Stefans Stimme von der Tür. Fragend drehe ich meinen Oberkörper in seine Richtung. Er steht neben dem Eingang, visiert eine Person durch die Schaufenster an.
»Was ist?«, will ich wissen. Sein angespannter Kiefer wird langsam sanfter.
»Nichts... ich habe mich versehen. Dachte nur ich hätte jemanden gesehen«, murmelt er und wendet seinen Kopf in meine Richtung. Ich nicke, drehe mich gelassen um. Aber mir entgeht sein skeptischer Blick zurück zur Straße nicht, den ich durch den Spiegel erkenne. Wen hat er gesehen?
»Ah hier sind sie!«
Vladislav hält siegessicher ein kleines Kissen in die Höhe, welches er sich ums Handgelenk bindet und eine Nadel davon abzupft. »Nun kann es weitergehen«, spricht er zu sich selbst, geht neben meinem rechten Bein in die Knie, um das Hosenbein abzustecken. Meine Augen gleiten wieder ins nichts. Mein Kopf ist im Moment wie leer gefegt, nicht Mal die schöne Britin nimmt ihn ein. Es fühlt sich komisch an, mal an nichts zu denken. Natürlich verfliegt dies nach einer kurzen Zeit wieder. Ich muss am Freitag denken. Ob Elena schon ein Kleid gefunden hat? Sie wird definitiv gut darin aussehen. Allein wenn ich daran denke - Gott. Ich schlucke heftig, straffe meine Schultern und räuspere mich leise. Verdammt.
»Mach es nicht zu eng«, mahne ich Vlad, der immer noch an den Hosenbeinen beschäftigt ist. Konzentriert nickt er, stopft eine Nadel in den feinen Stoff. Zufrieden schiele ich hinab, streiche dabei mein Hemd mit einer Hand glatt, stopfe es erneut in den Bund meiner Hose. »Der Stoff ist neu«, stelle ich fest. Der Schneider schaut begeistert über die Tatsache, dass ich es bemerkt habe, auf. »Oh Ja, echte Lotusseide, ein wahrlich teurer Stoff«, lässt er mich wissen. Hm, noch nie gehört. »Woher kommt die?«, erkundige ich mich deshalb. »Exzellente Frage. Lotusseide war bis vor kurzem nicht für die normale Welt zugänglich. Nur Buddhistische Mönche durften diesen edlen Stoff tragen, da er aus der Lotusblüte ist, der Blüte Buddhas. Aber ich konnte nach dem großen Ansturm auf den geöffneten Markt sechs Rollen ergattern. Sie wird exquisit in Myanmar hergestellt und wurde extra eingeflogen.«
Ich erahne den teuren Preis schon.
»Aber wenn ihnen die ägyptische Baumwolle lieber ist...«, er deutet auf den Kleiderbügel, auf dem ein weiteres Hemd hängt. Langsam schüttle ich den Kopf.
»Nein, es ist in Ordnung«, lehne ich ab. Vielleicht wird es mal Zeit für einen Stoffwechsel. Zumindest für die Feier.
Vlad wendet sich nun den Ärmeln zu, weswegen ich die Hände stillhalten muss. Mit der ersten Nadel pikst er mich mal wieder aus Versehen. Ich zucke zischend auf, er schaut mich entschuldigend an. »Schon okay«, murre ich, bevor er etwas sagen kann. Er entschuldigt sich einfach für alles. Vermutlich, weil er uns als Kunden nicht verlieren will. Dabei ist er weitaus der beste Schneider in der Umgebung, wenn nicht sogar der ganzen Provinz. Meine Familie hält ihm schon seit einer Ewigkeit die Treue. Bereits mein Urgroßvater ist bei seinem Vater ein und aus gegangen. Das Geschäft gibt es schon mindestens so lange, wie unsere Sippe in der Stadt ist. Wir haben ihn, durch die Hungersnot nach dem Krieg bekommen und durch einen weiteren. Vlad hat das Geschäft vor meiner Geburt von seinem Vater übernommen, welcher zuvor eine Hypothek bei uns auf das Geschäft hinterlassen hat. Seine Schulden sind ihm vor zwei Jahren, erlassen wurden. Er gehört fast zur Familie.
»Ich möchte ungern stören«, unterbricht Stefan uns erneut. »Denkst du wieder das du dich verschaut hast?«, frage ich ihn. Diesmal schüttelt er den Kopf. »Nein es geht um den Termin. Es wird langsam Zeit.«
Erinnernd wende ich mich ab, sehe zu Vladislav. »Mach den anderen Ärmel noch fertig, dann muss ich weiter«, bitte ich zügig. Er setzt dies sofort in die Tat um.
Frisch umgezogen trete ich aus der Umkleidekabine und stopfe das letzte Stück Hemd in meinen Hosenbund. Ich reiche Vladislav den unfertigen Anzug, bekomme ich Gegenzug mein Jackett wieder, welches er vorhin in der Garderobe untergebracht hatte. »Danke vielmals. Einer der Männer wird meinen Anzug dann holen kommen, falls ich es nicht selbst schaffe«, erkläre ich und werfe mir das schwarze Jackett über. Ich schlüpfe durch die Ärmel, schiebe mir meine Sonnenbrille auf die Nase. Aus meiner Hosentasche zücke ich ein Bündel Scheine. »Wie immer im Voraus«, reiche ich ihm das Geld.
»Danke, ich werde alles fertigstellen und ihn sicher verpacken«, versichert er mir. Ausatmend klopfe ich ihm auf die Schultern. »Da bin ich mir sicher, Vlad. Einen schönen Tag noch«, verabschiede ich mich zuversichtlich von ihm. »Ihnen auch!«, ruft er mir nach, als ich durch die Tür den Laden verlasse. Ich nicke ein letztes Mal in seine Richtung, dann fällt das Holz ins Schloss.

Draußen auf dem Gehweg schiebe ich mir die Sonnenbrille tiefer ins Gesicht und blicke zu beiden Seiten. Gegenüber parkt der Wagen, den ich vorerst ignoriere.
»Ein schöner Tag, oder Stefan?«
»Ja.«
»Wen Denkst du hast du gesehen?«
Ich blicke ihn abwartend an, entfache mir eine Zigarette. Der Qualm steigt in den warmen, hellen Sommerhimmel, verfliegt im lauen Wind. Stefan reibt sich mit der Hand über den Nacken, versucht, seine Unsicherheit zu überspielen.
»Naja, er sah aus wie einer von-«
»Ich verstehe«, unterbreche ich ihn, bevor er es aussprechen kann. »Leite es weiter, wir werden das im Auge behalten. Es ist nicht das erste Mal. Solange wir nicht wissen, was sie wollen, sollten wir die Augen offen halten«, weise ich ihn an. Die Sache ist langsam ernst zu nehmen. Was auch immer Zakhars Männer von uns wollen - besser gesagt er - sollten wir die Augen offen halten. Der Spinner ist unberechenbar.

Saints and SinnersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt