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Elena

»Was?«
Meine brüchige Stimme versagt am Ende. Mein Herz klopft wild und aufgeregt, meine Lippen zittern. Eifrig schüttle ich den Kopf. Es will mir nicht klar werden. Mein Vater muss falschliegen.
Wie gelähmt suche ich an der Brüstung halt, um nicht umzufallen. Wie ein Film ziehen die letzten Wochen an mir vorbei. Ein dicker Kloß bildet sich in meinem Hals. Ich bekomme keine Luft mehr. Mein Vater, der noch immer in seinem Stuhl sitzt, schüttelt schnaubend den Kopf. »Also habt ihr nicht?«, schlussfolgert er. Ich antworte ihm nicht, sondern laufe los. Weg von ihm, hinein ins Haus. Ich remple Antonio in der Halle an, renne die Treppe nach oben in mein Zimmer. Weinend schmeiße ich meine Tür hinter mir zu, rutsche an ihr hinunter auf den Boden und vergrabe das Gesicht in den Händen. Schluchzend erbebt mein Körper. Ich kann nicht mehr. Was ist, wenn mein Vater recht hat? Ich kann mich nicht daran erinnern, dass Miro und ich je verhütet haben. Vielleicht war ich auch nur zu betrunken, um mich daran zu erinnern?Schluchzend raufe ich mir die Haare, beiße mir auf die Unterlippe. Ich bette meinen Kopf auf den Knien, atme hektisch aus.
»Das darf doch alles nicht wahr sein...«, nuschle ich. Mein Herz klopft wild in meiner Brust, droht zu zerreißen. Ein unsichtbares Band zieht sich um meinen Hals, schnürt mir die Luft ab. Keuchend raffe ich mich auf und stolpere zum geöffneten Fenster. Die frische Luft beruhigt meinen flauen Magen etwas. Er knurrt hungrig, obwohl mir noch immer nicht wohl ist. Hart schluckend kralle ich mich in den Fensterrahmen und starre auf die Stadt. Die Sonne bricht durch die Wolkendecke, erwärmt mein Gesicht. Ihre Strahlen kitzeln meine Haut, wandern über mein Gesicht. Das erste Mal seitdem ich das Zimmer verlassen habe, atme ich tief durch. Mit jedem Zug entspannen sich meine Schultern ein wenig mehr. Wieso mache ich mich so verrückt? Ich habe im Moment andere Probleme. Ich will noch immer hier weg.
Dieser Mann wird immer ein Fremder für mich bleiben. Nach über zwanzig Jahren, in denen er nicht für mich da war, ist es schwer, nun zu akzeptieren, dass er tatsächlich da ist. In diesem Moment wünsche ich mir Mom her. Obwohl ich schlechte Erinnerungen an sie habe, bräuchte ich einen Rat von ihr. Einen den mir niemand sonst geben kann. Anscheinend war sie vor meiner Geburt jemand anderes. Die Dinge, die der Italiener mir über sie erzählt hat, verschaffen mir eine neue Perspektive über sie. Es ist nicht das erste Mal, das ich mir wünsche, dass sie dieses Zeug nie angerührt hätte. Dann wäre sie noch bei mir und könnte alles aufklären. Vielleicht wäre das alles früher passiert. Vielleicht wäre mein Vater von Anfang an für mich da gewesen. Vielleicht wären wir eine Familie gewesen. Genau das ist es, was ich mir immer gewünscht habe – eine Familie.

Es klopft leise an der Zimmertür. Ich unterbreche meine Gedanken, drehe den Kopf zu dem Stück Holz. Wer kann das sein?
»Ja?«, frage ich nach, wische mir ein letztes Mal über die Lippen.
Die goldene Klinke biegt sich Richtung Boden, gleich darauf schwingt die Tür langsam auf. Antonio tritt ein. Was er will, weiß ich nicht. Wieso ist er überhaupt hier? Um mich wieder nach unten zu bringen? Ich drehe mich um, kehre ihm den Rücken zu.
»Wenn sie hier sind, um mich wieder nach unten zu bringen, dann muss ich sie enttäuschen. Ich werde mich nicht bewegen«, stelle ich monoton klar. Tief einatmend schließe ich meine Finger fest um das Geländer des französischen Balkons. Antonio räuspert sich.
»Ich wollte nur sehen, ob sie noch etwas brauchen«, erklärt er sein erscheinen. Einen Moment überlege ich, nicke dann schließlich. Ich neige ihm den Kopf zu, fahre mir mit den Fingern durch die Haare.
»Könnten Sie für mich in die Apotheke fahren?«
Bittend sehe ich ihn an. Der große Italiener nickt mit verschränkten Händen. Wie immer ist sein Blick stechend und fest wie eine Mauer. Ich habe bereits aufgegeben, auch nur eine Emotion aus seinen Augen abzulesen zu wollen. Er versteckt sich hinter einer unsichtbaren Maske.
»Natürlich, sagen Sie mir nur, was ich bringen soll.«

~

Eine Stunde später schneit Antonio wieder ins Zimmer, mit einer weißen Plastiktüte in den Händen. Ohne die Miene zu verziehen, reicht er mir die Tüte mit der rechten Hand. Die andere hält er hinter dem Rücken. In seinem Ohr erkenne ich einen Stöpsel, dessen Kabel im Kragen seines Hemdes verschwindet. Er bekommt darüber Anweisungen, nehme ich an. Bisher ist es mir nicht aufgefallen.
»Ich habe die letzten drei Stück gekauft, wie Sie mich gebeten haben«, erzählt er.
»Danke Antonio...«
Ich strecke die Hand nach der Tüte aus, nehme sie an mich. Auch seine zweite Hand verschwindet hinter seinen Rücken.
»Ich habe mir erlaubt eine Packung Tabletten für ihren Magen beizupacken«, erwähnt er. Verwundert über diese Geste, sehe ich ihm ins Gesicht. Die Tüte lege ich vor mir auf dem Bett ab.
»Wieso tun Sie das? Wieso sind Sie so nett zu mir?«, traue ich mich, zu fragen. Der dunkelhaarige Personenschützer strafft unauffällig seine Schultern.
»Denn ich weiß wie viel Sie ihrem Vater bedeuten, auch wenn er das nicht so rüberbringen kann. Er war sehr lange auf der Suche nach ihnen.«
Seine Stimme ist ruhig und warm, entspannt und langsam. Langsam senken sich meine Augen zurück auf die Bettdecke. »Das kann ich im Moment nur nicht glauben, er hält mich hier gefangen«, lache ich unbehaglich. Antonio geht nicht darauf ein.
Der schlaksige Italiener tritt einen Schritt zurück, in Richtung Tür.
»Er will nur das Beste für Sie, Elena.«
Er kehrt auf der Stelle um, lässt mich allein zurück. Die Tür fällt nach ihm ins Schloss, es wird ruhig im Raum. Meine Hände umgreifen die Tüte fest. Ich habe Angst vor dem, was der Test sagen wird, und noch viel mehr vor der Zukunft. Das könnte all meine Pläne, von hier zu verschwinden, über Bord werfen. Ich finde es nur heraus, wenn ich es wage, ins Bad zu gehen und diese Tests zu machen. Etwas anderes bleibt mir nicht übrig.
Wie in Zeitlupe laufen die nächsten Minuten ab. Im Bad verriegle ich die Tür, lege die Tüte neben dem Waschbecken auf die Marmorplatte. Die drei blau verpackten Tests leuchten mir sofort entgegen. Die Gebrauchsanweisung ist simpel – ein Strich bedeutet nicht schwanger, zwei schon. Laut dem Beipackzettel soll ich ihn anschließen fünf Minuten ruhen lassen, bevor ich das Ergebnis bekomme. Mit trommelnden Fingern warte ich, bis die fünf Minuten endlich um sind. Jede Sekunde fühlt sich wie eine halbe Ewigkeit an. Die Tests liegen neben dem Waschbecken, ich sitze auf dem Rand der Badewanne und tippe gegen das Keramik. Innerlich raste ich fast aus. Mein Puls ist so hoch wie nie zuvor, das Adrenalin klingt nicht ab, mein Herz pocht wie verrückt, aber der Schmerz ist mittlerweile verschwunden. Mein Fuß beginnt nervös zu wippen.
Schließlich halte ich es nicht mehr aus und erhebe mich. Tigernd gehe ich im Badezimmer auf und ab, halte die Arme verschränkt und zähle leise vor mich hin. Jede weitere Minute wird zur Qual. Tausend Gedanken schießen mir in den Kopf, schwirren umher und machen mich verrückt.

Die fünf Minuten müssten um sein. Lippenbeißend halte ich vor dem Waschtisch inne und strecke meine Hand aus. Sie schwebt über dem ersten Test, ich zähle bis drei, bevor ich den Mut aufbringe, ihn tatsächlich zu greifen. Ohne mit der Wimper zu zucken, drehe ich ihn um. Zwei Striche. Hektisch greife ich mir den zweiten und dritten Test. Ebenfalls jeweils zwei Striche. Meine Welt bleibt stehen. Dreht sich nicht mehr, ist ganz still.
Sprachlos sinke ich auf den geschlossenen Toilettendeckel, starre ungläubig auf die Ergebnisse und schüttle immer wieder den Kopf. Darf das wahr sein? Das ist unfassbar. Meine Welt gerät ins Wanken. Alle Mauern um mich stürzen ein, mein Körper bebt auf, aber keine Träne verlässt meine trockenen Augen. Lynn ... ich brauche meine beste Freundin. Sie sollte bei mir sein, damit ich endlich zusammenbrechen kann und sie mir nur erzählt, was für eine verrückte Tante sie werden wird. Das sie immer für mich da ist. Die Realität sieht anders aus.
Ich bin allein in einem fremden Land, von ich nicht weiß, ob ich es je wieder verlassen werde.
Und das schlimmste, ich weiß nicht, ob Miro jemals erfahren wird, dass er Vater wird.

Saints and SinnersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt