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Elena

Als ich die Augen wieder aufschlage, piept ein Gerät gleichmäßig neben mir. Das Bett, auf dem ich liege, kommt mir bekannt vor. Es ist das gleiche, wie zuvor. Schwach drehe ich den Kopf nach rechts Richtung Tür und erkenne einen Monitor, der meine Vitalzeichen aufzeichnet. Um meinem Arm liegt eine Blutdruckmanschette und über meinem Zeigefinger steckt ein Pulsmesser. Geschafft schließe ich die Augen, atme tief durch und grabe meine Finger in den weichen Stoff des Lakens. Die Lage scheint aussichtslos. Ich kann nicht begreifen, dass dieser Mann wirklich mein Vater sein soll. Nach all den Jahren taucht er plötzlich auf? Nachdem ich all dieses Leid erfahren habe? Wieso gerade jetzt?
»Wie ich sehe bist du wach. Wie fühlst du dich?«, ertönt seine tiefe Stimme aus einer düsteren Ecke des Raumes. Erschrocken schaue ich nach rechts. Er sitzt im Schatten der Stehlampe neben den großen Fenstern. Mit einem Glas in der Hand und überschlagenen Beinen. Sein Knöchel liegt auf dem Knie, er hat sich zurückgelehnt.
»Wieso bin ich hier?«, krächze ich kaum hörbar. Mir ist nicht danach ihn anzuschreien. Dafür bin ich zu müde.
»Willst du die Frage etwa so lange stellen, bis ich dir eine andere Antwort gebe?«, fragt er. Ich sehe aus den Fenstern in die Nacht. Der Mond steht hoch am Himmel und die Sterne tanzen um ihn. Es muss mitten in der Nacht sein.
»Wie spät ist es?«, umgehe ich seine Frage.
»Ein Uhr.«

Ich atme aus und höre für einen Moment meinem Herzschlag zu, der sich im Raum breitmacht.
»Kannst du das mal aus machen?«, bitte ich ihn, als die Manschette sich wieder aufpumpt.
»Sie ist zu deiner Gesundheit.«
»Das kannst du dir sparen. Ich bin weder Herzkrank noch brauche ich Medikamente. Ich bin einfach nur müde und wurde vor nicht mal einem Monat von einem Auto angefahren!«, zische ich und setze mich trotz Schmerzen auf. Ich reiße mir die Manschette vom Arm, pfeffere sie neben das Gerät und drücke den Knopf. Keine Sekunde später wird der Bildschirm schwarz. Erleichtert lehne ich mich zurück.
Ein leises, aber amüsiertes schnauben verlässt ihn. »Du bist wie deine Mutter«, lächelt er minimal. Mein Gesichtsausdruck wird härter. »Du kanntest Sie nicht, also lass Sie aus dem Spiel«, sage ich. Über Sie will ich jetzt nicht sprechen. Es sind zu viele Dinge passiert, die ich verdrängen will. Meine Kindheit zum Beispiel. Ich habe es gehasst in diesen Kinderheimen. Und wo war Sie? Hat sich die Birne zugedröhnt auf dem Bordstein einer Tankstelle.
»Oh doch, ich kannte Sie sehr gut...«, murmelt mein angeblicher Vater in seiner Ecke. Er reibt sich hörbar über den kurzen Bart, trinkt ein Schluck aus seinem Glas, was neben ihm auf dem Tisch Platz findet.
»Sie war eine wunderschöne Frau. Du bist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Bis auf die Augen natürlich.«
»Sag nicht das ich aussehe wie Sie. Sie war nur ein Junkie.«
»So wie du sie in Erinnerung hast habe ich Sie aber nicht in Erinnerung. Als wir uns kennenlernten war Sie gerade mit der Schule fertig und auf einer Reise durch Italien. Sie hatte einen blauen Rucksack dabei und diese quietsch-gelbe Regenjacke, mit der sie den Vesuv erklommen hat. Und so verdammt stur, genau wie du. Früher hätte Sie dieses Drogen Zeugs nie angerührt.«

Seine Worte kann ich nicht glauben, denn das ist nicht die Frau, die ich kenne. An die Zeit vor dem Kinderheim kann ich mich kaum noch erinnern. Ich war zu jung, doch meine Tante sagte, dass sie eine wundervolle Mutter gewesen ist, zu Beginn. Anscheinend hat sie das erste Mal Heroin genommen, als ich eineinhalb Jahre alt war. Besuch habe ich sie das erste Mal mit fünf Jahren, von dort an einmal alle sechs Wochen. Mit jedem Mal ging es ihr schlechter. Ich habe ihr leidendes Gesicht in meinen Albträumen gesehen nach jedem verdammten Besuch. Und trotzdem habe ich Sie geliebt. Jedes Mal hat sie mir Süßigkeiten mitgebracht, manchmal andere Kleinigkeiten. Zu meinem Geburtstag einen Plüschhasen. Er steckt heute in einer rosa Box auf meinem Schrank, zusammen mit anderen Erinnerungen von ihr. Ich habe diese Box schon lange nicht mehr geöffnet.
Nachdenklich drehe ich mich im Mondlicht auf die Seite, starre gedankenverloren aus dem Fenster hinaus in die stockfinstere Nacht. Die Sterne spenden mir Trost.
»Wieso bist du dann nicht bei ihr gewesen? Wieso hast du sie allein gelassen als sie dich gebraucht hat?«, frage ich hauchend. Ich muss es einfach wissen, um es besser zu verstehen.
»Wir waren nicht verheiratet als Sie schwanger geworden ist. Meine Familie hat das nicht akzeptiert und wollte sie dazu drängen, abzutreiben. Also habe ich ihr ein Flugticket gekauft, Sie in den Flieger zurück nach England gesetzt und meinen Eltern erzählt, dass Sie das Kind verloren hat und nichts mehr von mir wissen will. Obwohl es dich in Wahrheit noch gab«, versucht er mir zu erklären. Sein schwerer Atem dringt in meine Ohren. Der dicke Kloß in meinem Hals schnürt mir die Luft zu Atmen langsam ab. »Und wieso meldest du dich jetzt? Nach dreiundzwanzig Jahren? Du warst nie für mich da«, werfe ich ihm an den Kopf. Meine angestaute Wut verwandelt sich in bittere Tränen. Mein Vater stellt die Füße nebeneinander auf den Boden, stützt sich mit den Ellenbogen auf den Knien ab und lehnt sich nach vorne.
»Weil meine Eltern endlich tot sind. Sie sind vor zwei Jahren gestorben, seitdem habe ich versucht euch zu finden«, erwidert er aufgewühlt, »Ich wusste ja nicht mal das deine Mutter nicht mehr lebt! Als ich dich endlich gefunden hatte warst du nicht in der Stadt und ich musste warten, bis du wieder kommst. Als du im Café erzählt hasst, das deine Mutter tot ist, habe ich davon erfahren. Davor wusste ich nichts davon«, beteuert er. Angestrengt erhebt er sich aus dem Sessel in der Ecke und fährt sich durch die Haare.
»Elena, ich will das du hier bei mir bleibst. Du verstehst es vielleicht noch nicht, aber du wirst in Gefahr sein, wenn du wieder gehst. Jetzt da Sie wissen wer du bist-«
»Wer ich bin?«, schnaube ich und richte mich im Bett auf, »Ich bin ein einfaches Mädchen aus Bath, wer soll ich sonst sein?«

Er macht einen Schritt auf mich zu und presst die Lippen aufeinander.
»Du bist eine Marcelli. Weißt du was das bedeutet?«, fragt er mich unsicher. Kopfschüttelnd streiche ich mir die Haare hinter die Ohren. Mein Vater schluckt, hält einen Moment inne, um sich zu sammeln.
»Ich bin bekannt in Italien, sowohl bei den Weinbauern als auch in der Unterwelt. Jeder meiner Konkurrenten, der herausfindet wer du bist, wird dich gegen mich verwenden wollen, um mir zu Schaden. Deswegen bist du wirklich hier«, gesteht er mir. Er soll von der Mafia sein? Ich komme mir vor wie in einem schlechten Actionfilm. Wie konnte mein Leben so aus dem Ruder laufen? So plötzlich? Alles Stehen Kopf und ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Die Überforderung steht mir ins Gesicht geschrieben.
»Du? Ein Mafiosi?«
Er nickt minimal, spricht es nicht aus. Ich schüttle ungläubig den Kopf und schlage die Bettdecke zur Seite. Träume ich? Wenn ja ist es ein mieser Traum. In der Finsternis schreite ich über das Parkett auf ihn zu. Vor ihm bleibe ich stehen, schaue den großen Mann an.
»Ich bin alt genug, um auf mich selbst aufzupassen. Die letzten dreiundzwanzig Jahre meines Lebens warst du nicht für mich da, also schaffe ich es jetzt auch allein. Ich will nachhause«, flehe ich ein letztes Mal. Ich brauche ihn nicht. Er ist mir fremd und überfordert mich. Seine kalten Gesichtszüge jagen mir einen Schauer nach dem anderen über den Rücken. Er schüchtert mich ein. Und doch fühle ich mich geborgen, wenn ich ihm in die Augen schaue. Abermals verneint er eine Bitte.
Ich seufze am Ende meiner Kräfte auf und massiere mir die Schläfe. »Bitte. Ich will zurück zu Lynn... und zu Miro«, bettle ich verzweifelt. Ich weiß nicht, was ich sonst tun kann. Auf meinem Weg nach unten ins Erdgeschoss heute Morgen, habe ich nicht ein Telefon gesehen. Hilfe rufen kann ich also nicht. Fliehen auch nicht. Die Typen, die mich verschleppt haben, sichern bestimmt das Gelände ab. Das Anwesen wird anscheinend besser als das Weiße Haus bewacht. Meine Chancen sind gleich null. Er legt den Kopf schief und studiert mein Gesicht prüfend. »Miro? Hat er etwas mit der Narbe an deiner Stirn zu tun?«, will er wissen. »Er hat mich gerettet. Jemand hatte es auf mich abgesehen«, murmle ich. Sofort werden seine Augen größer. Er macht einen Schritt auf mich zu, packt mich am Oberarm. »Wer? Sag es mir«, verlangt sofort eisern. Ich weiche zurück und entziehe ihm meinen Arm. Er scheint, als würde er sich ernsthaft Sorgen machen. Verwirrt ziehen sich meine Augenbrauen zusammen. »Ich weiß es nicht. Mich hat ein Auto in Sankt Petersburg angefahren«, kläre ich auf. Sein Brustkorb hebt sich.

»Wie ist sein Nachname? Er ist doch Russe, oder?«, zischt er geladen. »Rochevsko«, stottere ich ahnungslos. Der große Italiener bildet seine Hände zu Fäusten. Mich beschleicht ein mulmiges Gefühl. »Kennst du seine Familie etwa?«, hake ich nach. Mein Vater knurrt auf. »Und ob. Aber wenn es die nicht waren, dann kann es nur Zakhar gewesen sein«, poltert er und marschiert augenblicklich auf die Tür zu. Verwundert sehe ich ihm nach.
»Wo willst du hin?«, rufe ich ihm nach.
»Dinge klären. Du wirst so lange hier verweilen. Und ich kann nicht fassen, dass du dich mit den Rochevskos rumgetrieben hast. Eine Schande, Elena! Du wirst keinen Kontakt mehr zu diesem Kerl haben, solange du hier bist.« Er reißt die Tür gewaltsam auf, marschiert in den Flur. Habe ich mich gerade verhört? Er will mir verbieten, Kontakt zu Miro zu haben?

»Spinnst du? Du kannst mir überhaupt nichts verbieten!«, fahre ich ihn lauter werdend an. Mein Vater ignoriert meine Worte, dreht sich aber ein letztes Mal in der Türschwelle stehend zu mir um, zeigt mit dem Finger auf mich. »Du hast keine Ahnung Elena. Die Rochevskos sind das pure Gift. Sie werden dich früher oder später verderben. Und das werde ich unter keinen Umständen zulassen. Bis ich wieder da bin, wirst du dieses Zimmer nicht verlassen«, stellt er klar. Mit einem lauten Knall fällt die Tür ins Schloss. Sofort stürze ich auf sie zu. Der Schlüssel dreht sich im Schloss, ich schlage meine Fäuste gegen das Holz. »Spinnst du? Lass mich sofort hier raus!«, schreie ich hysterisch. »Es ist zu deinem eigenen Wohl«, ertönt es gedämpft von der anderen Seite der Tür. Brüllend schlage ich weiter auf das Holz ein.
»Lass ihn in Ruhe, hörst du? Wenn du ihm auch nur einen Finger krümmst, dann werde ich dich für immer hassen! Hast du gehört?! Ich hasse dich!«, donnere ich lautstark. Es bleibt still, er ist schon weg.
Ein letztes Mal schlage ich gegen die Tür, dann lege ich meine flachen Hände gegen das Holz und beginne zu weinen.
Wimmernd sinke ich auf den Boden, schlinge mir die Arme um den Oberkörper und weine bitterlich in der Dunkelheit. Mir ist soeben klar geworden, dass ich viel mehr für Miro empfinde, als mir klar war. Liebe ich ihn etwa?

Saints and SinnersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt