2. Kapitel

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Obwohl der Boden, auf dem ich stand, manchmal nicht ganz so fest war, wie erhofft. Mein Vater hat gelitten, auch wenn er versucht hat, es zu überspielen. So weiß ich im Nachhinein, dass es viel schlimmer war, als er vorgab. Er war immer für mich da und ich konnte nicht für ihn da sein, weil ich Angst hatte. Ich hatte so große Angst, dass ich einiges falsch oder gar nicht gemacht hatte.

Am liebsten hätte ich Tom davon erzählt, von meinen Ängsten und Sorgen. Es war schwer, das Erlebte in Worte zu fassen, doch für ihn hätte ich es versucht. Wie oft hielt ich mein Handy in der Hand, um Tom anzurufen. Doch ich hatte Angst, dass Zoe abnehmen würde und ich wollte nicht aufdringlich sein.

Also fraß ich über Monate alles Gesehene und Gehörte in mich hinein. Ich sprach mit keinem und grenzte mich ab, so gut es ging. Dann hörte ich entweder so laut Musik, dass ich die Stimmen, die mir immer wieder sagten, wie schrecklich kindisch ich mich verhielt, in meinem Kopf übertönen konnte, oder ich schlich mich noch einmal hinaus, um irgendwo etwas zu trinken, bis ich nicht mehr gerade stehen konnte, um wenigstens für ein paar Stunden zu vergessen.

Ich dachte diese Verliebtheit von meinem besten Freund lässt vielleicht nach, aber das ist sie nicht. Zoe und Tom sind wie eine Einheit geworden. Ich weiß nicht so recht, ob sie mich mag, denn ab und zu erdolcht sie mich mit ihren Blicken und tut so, als würde ich wirklich das fünfte Rad am Wagen spielen. Vielleicht tue ich das ja auch. Tom hat in dieser schweren Zeit ein paar Partys geschwänzt, während ich trotzdem hingegangen bin. Man kennt schon ein paar Leute, meistens Jungs aus meiner Klasse, mit denen man dann etwas trinken oder sich unterhalten kann. Es war anders als mit Tom, aber es war auszuhalten.

Während mein Vater also Tag für Tag mehr verkümmerte, da war ich ein dummer Teenager, der sich nicht getraute in sein Zimmer zu gehen. Denn ich hatte zu große Angst, ihn zu enttäuschen. Ich war damals sogar noch halbwegs bemüht gute Noten zu schreiben, weil ich dachte, dass er vielleicht daran noch Freude gehabt hätte. Ich war nett zu anderen Menschen und ging für meine Mum einkaufen, um ihr das Leben zu erleichtern. Vielleicht hatte ich durch all diese Taten nicht so das Gefühl bei ihm zu versagen.

Doch es half nichts. Vor einem knappen halben Jahr starb er. Der Krebs hatte meinen Vater besiegt. Er hatte ihn geschwächt und schließlich mitgenommen.

Einen Tag vor seinem Tod wollte mein Papa mich sprechen. Ich wusste noch, wie ich mit mir gerungen hatte, weil ich ihn lieber als aufgeweckt und voller Lebensfreude in Erinnerung behalten hätte, doch meine Mutter meinte, es wäre wichtig. Ich ließ mich überreden und ging in sein Zimmer.

Durch die zugezogenen Vorhänge war es abgedunkelt und mein Dad lag im Bett. Die Bettdecke hatte er bis zur Brust hinaufgezogen und durch die Chemo hatte er weder Haare noch viel Fleisch auf den Rippen.

»Oliver...«, sagte er und seine Stimme war nur ein Hauch und zitterte dabei. Ich hatte Angst vor dem was jetzt kommen würde, doch er bat mich mit einem langsamen Nicken auf sein Bett. Ich ließ mich sanft darauf gleiten und er griff nach meiner Hand. Ich erinnerte mich daran, wann er das letzte Mal meine Hand gehalten hatte.

Damals war ich zehn gewesen und hatte mir das Knie beim Fußball spielen am Asphalt aufgeschlagen. Ich hatte geheult wie ein Schlosshund und er tröstete mich, nahm meine Hand und wir gingen ins Haus. Dort verband der Mann mein Knie mit einem weißen Verband und klebte noch ein Pflaster mit Autos darauf. Jetzt sah er mich an.

»Du bist nicht allein. Ich bin da«, sagte er und ich schaute ihn fragend an. Wollte er jetzt seinen Tod überspielen? Wir wussten beide, dass er starb. Ich war kein Kind mehr, ich wusste über mehr Bescheid, als er dachte. Die Luft im Raum und die ganze Atmosphäre gab mir das Gefühl, dass es sowieso jede Minute so weit sein könnte.

»Ich bin immer in deinem Herzen und du bist der beste Sohn, den man sich wünschen kann«, dann verzog er seine Lippen zu einem Lächeln. Es klappte nicht so recht, also gingen seine Mundwinkel wieder in die Gerade zurück.

In diesem Moment hatte ich das Gefühl, dass ich etwas sagen musste. Doch es fiel mir schwer, in meinem Wortschatz, nach den passenden Wörtern zu graben.

»Es tut mir leid«, flüsterte ich in die Stille zwischen uns und hoffte, dass er verstand, was ich meinte. Er sah mich nur an und ich wusste, dass er mich verstand und ich nichts mehr sagen musste.

Eine halbe Stunde später war er tot und ich hoffte, dass er in den Himmel kam, denn er hatte es nicht anders verdient.

...

»Ollie? Was sagst du dazu?« Was sage ich zu was? Ich erwache aus meinen Gedanken. Natürlich bin ich noch am Schulhof, mir gegenüber steht Tom und daneben sein Anhängsel Zoe.

»Willst du vor der Party noch zu mir kommen?«, wiederholt mein Freund seine Frage. Ich bin im ersten Moment etwas perplex. Wann haben wir uns das letzte Mal vor einer Party getroffen? Das müsste fast ein halbes Jahr her sein. Ziemlich genau ein paar Wochen bevor mein Vater starb und ich mich in ein Arschloch verwandelte. Wahrscheinlich wollte er deswegen nichts mit mir zu tun haben.

In den letzten Monaten haben wir uns am Ort der Feier getroffen und uns danach aufgeteilt. Ich habe irgendwo getrunken, ziemlich viel, um genau zu sein. Ich führte auch Gespräche, aber meistens habe ich geflirtet. Und er? Er hat sich in eine gemütliche Ecke verzogen und hat mit Zoe auf seinem Schoß geknutscht. Als könnten sie das nicht zu Hause auch tun.

»Ja, wann soll ich da sein?«, frage ich schnell, bevor er wieder nachfragen muss, ob ich noch anwesend bin.

»So um 21 Uhr?« Ich hebe den Daumen und er wendet sich wieder an Zoe. Die malt ihre Lippen gerade mit einem roten Stift nach. Ich kann nicht verhindern, dass ich die Augenbrauen zusammenziehe. Die Farbe ist etwas zu grell in meinen Augen. Aber ich sage nichts. Ich habe keine Lust auf Streit mit ihr. Ich frage mich, ob Tom ihr das Rot nicht von den Lippen leckt, wenn er sie küsst. Doch das tut er nicht. Er lächelt sie an, als würde er die Lippen wunderschön finden.

Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob er überhaupt auf der Beerdigung war. Auf jeden Fall kannte er meinen Vater und das seit über zehn Jahren. Kam man nach so einer langen Zeit nicht zu Beerdigungen? Ich weiß es nicht.

Es läutet in dem Moment, in dem Zoe ihre roten Lippen auf Toms Hals legen will. Ich atme aus und mir wird bewusst, dass ich nicht einmal mitbekommen habe, dass ich die Luft angehalten habe.

»Bis später mein Schatz!«, flüstert Zoe in Toms Ohr und drückt ihm einen Kuss auf den Mund. Ich höre das Schmatzen und wende mich ab.

Hinter verschlossenen Türen [boyxboy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt