66. Kapitel

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»Ich habe dich vermisst...«, erläutere ich ihm meine Lage und er kichert leise.

»Ich dich auch, ich habe den halben Supermarkt ruiniert, weil ich mich nicht konzentrieren konnte«, sagt Tyler.

»Echt?«, lache ich. »Was hast du getan?«

»Mir sind zwei Gläser Pfefferoni runtergefallen, als ich sie eingeschlichtet habe und eine Packung Mehl. Danach durfte ich kassieren, weil sich keiner mehr getraut hat, mich irgendwas machen zu lassen, bei dem Produkte kaputt gehen können«, erzählt er und klingt dabei ziemlich kleinlaut.

Ich muss nur noch mehr lachen. Auch wenn es mir leidtut, dass er Dinge zerstört, tut es doch irgendwie gut, dass Tyler genauso durcheinander ist, wie ich.

»Wollen wir uns heute treffen?«, fragt Tyler dann und ich verstumme.

»Ja, du könntest zu mir kommen. Meine Mum kommt erst gegen 18 Uhr nach Hause«, erkläre ich ihm.

Es herrscht kurze Stille, bevor er meint: »Was machen wir, wenn sie früher nach Hause kommt?«

»Ja, das ist eine gute Frage...«, grüble ich.

»Wie wäre es, wenn du zu mir in die Wohnung kommst?«, erkundigt sich Tyler.

»Wohnst du noch immer in der Wohnung, in der wir...«, beginne ich und fange dann an zu stottern.

»... Sex hatten? Ja, ich wohne immer noch dort«, beendet er meinen Satz und ich kann aus seiner Stimme hören, dass er grinst.

»Oh, okay«, mache ich.

»Möchtest du mich besuchen?«, fragt er nochmal. Stimmt, ich habe ihm noch gar keine Antwort gegeben.

»Was ist mit deinen Mitbewohnern?«, stelle ich ihm die Frage. Ich kann mich erinnern, dass er damals meinte, sie wohnen zu dritt in der WG.

»Der eine ist ausgezogen und der andere ist bei seiner Freundin. Aber ich werde ihm einfach kurz schreiben, dass er heute bei seiner Freundin bleiben soll«, erklärt Tyler.

»Okay, dann fahre ich in einer halben Stunde weg, ich esse vorher noch«, sage ich und er verspricht mir, die Adresse zu schicken. Denn ehrlich gesagt kann ich mir Straßennamen ganz schlecht merken.

Wir verabschieden uns und während ich die Wurstfleckerl fertig mache, gibt mein Handy einen Ton von sich und Tyler hat mir die Adresse geschickt.

Ich esse einen Teller von der Hauptspeise und stelle den Rest in der Schüssel neben dem Herd hin, damit ihn meine Mama nicht übersieht.

Danach trinke ich noch etwas und schreibe meiner Mama, dass ich zu einem Freund fahre und erst später zurückkomme. Freund oder fester Freund macht dann auch schon keinen Unterschied mehr.

Anschließend mache mich dann auf den Weg zu Tyler. Ich fahre fast zwanzig Minuten, während mir das Navi den weg diktiert. Bevor ich mir wenig später einen Parkplatz in der Nähe der WG suche.

Ich sehe mich um und sehe, dass ein kleiner Wegpfeiler zum „Kiss" hinführt. Ich muss ein wenig lächeln, als ich daran denke, dass wir uns dort das erste Mal geküsst haben und dann erregt und aufgeregt in seine Wohnung gelaufen sind.

Ich klingle und ein Summer ertönt, der mich die Tür öffnen lässt. Tyler wartet schon am Stiegenaufgang und strahlt mich an, sodass mir ganz warm im Bauch wird.

»Hallo!«, er lächelt mich an und kommt auf mich zu.

Ich küsse ihn, ohne ein Wort zu sagen. Er umfasst meinen Körper mit beiden Armen und so torkeln wir irgendwie in seine Wohnung.

»Hey, hey...«, macht er ganz außer Atem, als ich meinen Mund von seinem löse.

»Ich habe dich einfach so vermisst...«, versuche ich zu erklären und er grinst mich an.

»Zieh dir erst einmal die Schuhe aus!«, bittet er mich und ich schlüpfe aus meinen Turnschuhen.

Dann gehen wir in sein Zimmer. Es fühlt sich an wie ein Déjà-vu, jetzt alles nochmal zu sehen, nachdem ich ja vor Monaten schon einmal da war.

Die Wände strahlen noch immer in einem hellblau, während die Bettwäsche heute aus einem weißen Hintergrund und kleinen roten Kugeln besteht.

Jetzt sind die Fensterläden offen und die Sonne fällt ins Zimmer. Tyler hat auf dem Nachtkästchen zwei Gläser mit Wasser hingestellt.

Auf dem Schreibtisch liegen ein paar Bücher. Als ich genauer hinsehen will, zieht mich Tyler zu sich auf das Bett.

Wir liegen halb und sitzen halb irgendwie ineinander verschlungen im weichen Bett.

»Alles in Ordnung?«, frage ich, weil er so still ist.

»Ja, jetzt schon!«, er grinst mich an.

Dann verbringen wir die nächste halbe Stunde uns auszutauschen, was wir heute gemacht haben.

Irgendwann tut uns der Rücken weh und wir setzen uns nebeneinander hin und lehnen uns an der Wand an.

»Ich glaube, ich muss dir etwas sagen...«, ich sehe ihn vorsichtig an.

Schnell nehme ich noch einen Schluck Wasser und spüre Tylers erwartungsvollen Blick auf mir.

»Komm, sag schon, ich bin auch nicht böse!«, fordert er mich auf.

Ich schlucke noch einmal und erkläre dann langsam: »Dein Vater hat mir von Silvia erzählt...«

Tyler zieht scharf die Luft ein.

»Über das habt ihr also beim Wandern geredet...«, fängt er an und ich nicke.

»Es tut mir leid! Aber ich wollte es dir beim Ausflug nicht sagen, weil zwischen uns alles so gut war und ich nichts zerstören wollte. Und Georg meinte, dass es ein schwieriges Thema für dich ist. Also... ich zwinge dich nicht, mit mir darüber zu sprechen, aber ich würde schon irgendwann gerne deine Sicht der Dinge hören«, sage ich.

Es geht mir nicht darum, dass er mir jetzt gleich alles beichtet und wir dann so weitermachen, wie bisher. Es geht mir viel mehr darum, ehrlich zueinander zu sein.

Natürlich weiß ich, dass ich mit ihm schon früher darüber reden hätte sollen, aber vielleicht bin ich ein kleiner Angsthase und zögere wichtige Dinge gerne hinaus.

»Ich habe es befürchtet, dass wir irgendwann an diesem Punkt stehen werden...«, seufzt Tyler.

Oh Gott, was will er jetzt damit sagen? Wahrscheinlich schmeißt er mich jetzt aus seiner Wohnung.

»Du musst nicht...«, fange ich ein wenig verzweifelt an, doch er unterbricht mich: »Nein, Ollie! Ich denke, ich muss schon und ich werde es dir erzählen.«

Um ihm ein wenig Kraft zu geben, greife ich nach seiner Hand und halte sie fest umschlossen.

»Also, ich denke mein Vater hat dir alles erzählt, was vorgefallen ist. Ich will jetzt nicht mehr Wort für Wort durchkauen, was damals geschehen ist, aber ich kann dir sagen, dass ich schon seit Jahren in Therapie gehe. Und ich hatte immer das Gefühl, ich rede zwar irgendwie darüber, aber es hilft mir nicht weiter.

Erst in den letzten Sitzungen hat sich irgendwas gelöst. Vielleicht war es wegen dir oder weil ich langsam verstanden habe, dass es nicht meine Schuld ist.

Ich hatte immer das Gefühl, ich wäre schuld, dass meine Mutter so war. Oder dass sie uns verlassen hat und mich nicht akzeptiert, hat«, er stoppt in seiner Erzählung und greift nach dem Wasserglas.

Seine Finger zittern, als er es ein wenig fester umgreift. Sein Gesicht ist blass geworden und in seinen Augen liegt ein trauriger Schimmer.

° ° ° ° °

Schön langsam neigt sich die Geschichte dem Ende zu.🥺

Ich starte den Countdown: Noch fünf...


Hinter verschlossenen Türen [boyxboy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt