62. Kapitel

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Keine große Wurzel stellt sich mir in den Weg, genauso wenig wie das Loch, dass sich auftut, damit ich darin verschwinden kann, um mir diese Peinlichkeit zu ersparen.

Wenigstens schaffen wir es alle vier ohne weitere Probleme wieder in die Hütte zurück. Dort verzieht sich Georg in das Wohnzimmer und ich höre ihn telefonieren.

»Was macht er?«, erkundige ich mich bei Tyler. Der strahlt mich glücklich an: »Er organisiert unseren Transport!«

Unseren Transport wohin?

»Von der Gondel ins Tal«, erklärt er dann, weil ich so erstaunt dreinschaue.

Ach, es gibt einen Transport! Warum funktioniert das erst jetzt und nicht schon beim Hinaufgehen? Kann mir das jemand erklären?

»Zieh nicht so ein Gesicht. Freu dich doch!«, grinst Tyler jetzt.

»Ist doch wunderbar!«, erwidere ich und er zieht die Augenbrauen in die Höhe.

»Hey, ich freue mich wirklich. Ich werde gleich beginnen, meine Sachen zu suchen und sie zusammenzupacken«, schiebe ich schnell hinterher, weil er mich so skeptisch mustert.

Dann berühre ich sanft seinen Arm und laufe die Stiegen hinauf in mein Zimmer. Dort schieße ich noch ein paar Fotos vom Ausblick auf die Berge, ich muss schließlich morgen angeben, wo ich überall hinaufgewandert bin.

Anschließend mache ich mich daran alle Dinge, die im Zimmer verstreut herumliegen, aufzuheben, um sie dann wieder im Wanderrucksack zu verstauen.

Danach gehe ich wieder die Treppe nach unten, wo meine Mum und Tylers Dad bereits mit ihren Rucksäcken bereitstehen. Die Bücher, die ich in mein Zimmer mitgenommen habe, stelle ich in das Regal zurück.

Nur von Tyler fehlt noch jede Spur. Schön, dass wir jetzt alle auf ihn warten müssen. Ich höre es vom Obergeschoss rumpeln und dann fällt eine Tür zu.

Nach wenigen Minuten erscheint auch er und Georg lächelt uns an: »So, die erste halbe Stunde bleibt uns zwar nicht erspart. Aber nach der Gondel holt uns ein kleiner Bus ab und bringt uns zu den Autos. Ich hoffe unser kleiner Ausflug hat euch gefallen!«

Ja, vor allem die Stunden, die ich mit meinem Stiefbruder allein hatte. Die waren sehr schön. Alles andere eher so mittelmäßig. Und die Wanderungen waren sowieso das allerschlimmste.

»Es war wirklich schön, Georg!«, meine Mutter strahlt ihn an, als hätte er ihr einen Stern vom Himmel geholt. Hallo, jetzt übertreibt sie aber!

»Mhm, war ganz cool«, gebe ich von mir. Also ich murmle es nur, weil mir meine Mama so einen bittenden Blick zuwirft und ich nicht will, dass sie danach mit mir diskutiert, warum ich denn nichts gesagt habe.

Georg streicht meiner Mum über den Arm. Genauso, wie ich es noch vor einer knappen halben Stunde bei Tyler gemacht habe, fällt mir auf. Nur, dass sie es vor uns tun und sich nicht verstecken. Ich sollte Tyler unbedingt sagen, dass sein Vater schon bescheid weiß.

Der Abstieg, der danach folgt, lässt mich diesen Gedanken aber schnell vergessen. Es ist so anstrengend, dass ich wahrscheinlich nicht einmal um Hilfe rufen könnte, wenn ich irgendwo hinunterfallen würde.

Der Schweiß rinnt mir über den Rücken und ich versuche kontrolliert ein- und auszuatmen, um mir Seitenstechen zu ersparen.

Als wir endlich bei der Gondelstation ankommen, bin ich kurz davor mich zu übergeben. Aber vor Tyler werde ich mich zusammenreißen. Schließlich wäre es wahnsinnig unangenehm, wenn ich ihm jetzt vor die Füße kotze.

Dieser sieht übrigens auch nicht so gut gelaunt aus. Eher so, als würde er sich in Gedanken schon sein Grab schaufeln. Vielleicht kann ich ihn dazu bringen, meines gleich mitzugraben.

Der Einzige, der noch immer gut drauf ist und nicht im Schweiße seines Angesichts vor uns steht, ist Georg. Sogar meine Mutter sieht ziemlich blass und verausgabt aus.

Vielleicht hätte Mums neuer Freund den Bus nur für uns bestellen sollen, er sieht nämlich so aus, als könnte er die restliche Strecke auch noch zu Fuß zurücklegen.

»Ich will in die Gondel und einfach schlafen«, seufzt Tyler neben mir und ich muss mich zusammenreißen, ihm nicht mitfühlend über den Kopf und die verschwitzten Haare zu streichen. Ja, das will ich auch.

»Schnell, kommt her! Die nächste Gondel ist ganz leer«, scheucht uns Georg zu sich und betritt als erstes die langsamer werdende Gondel.

Meine Mutter steigt als nächstes ein, danach folgt Tyler und zum Schluss ich. Ich will mich gerade auch die Bank sinken lassen, da höre ich Stimmen.

Stimmen, die ich nie mehr wieder hören wollte. Oh nein. Ich halte panisch nach einem Schalter Ausschau, der die Türen sofort schließt, aber natürlich gibt es diesen nicht und so kann ich nur mitansehen und nichts dagegen tun, dass unsere Bekanntschaften vom Berg zu uns einsteigen.

Tamara und Mimi, die zwei Frauen vom Berg. Ich habe sie ja schon fast vergessen. Das war ein großer Fehler. Tyler, der neben mir sitzt, beginnt tatsächlich zu lachen.

»Oh hallo!«, Mimi grinst uns an und sagt: »So schnell sieht man sich wieder...«

Ja, so schnell geht das wohl...

»Ihr kennt euch?«, meine Mum blickt neugierig in die Runde. Klar, dass sie das wieder interessiert.

»Ach, wir haben uns nur kurz beim Wandern getroffen, nicht der Rede wert!«, erwidere ich und versuche einen neutralen Gesichtsausdruck auf mein Gesicht zu kleistern.

Doch meine Mama ist anscheinend der Meinung, dass es sehr wohl der Rede wert ist. War ja wieder vorherzusehen, dass sie glücklich über die beiden Frauen ist, mit denen sie jetzt quatschen kann.

»Und woher kommen Sie beiden?«, fragt sie die Frauen weiter aus.

Tamara beginnt vom Heimatort zu erzählen und da meine Mum sehr neugierig ist, geht das Gespräch so lange, bis ich vor lauter Reden und Ausfragen die Augen in Tylers Richtung verdrehe. Ich weiß nicht, warum sie die Leute nie in Ruhe lassen kann.

Er greift ganz unauffällig hinter meinem Rücken vorbei und streicht meine Seite entlang. Schön, dass er mich wenigstens versteht und mich ein wenig beruhigen kann. Aber seine Hand an meiner Seite verschafft mir mehr Aufregung als Beruhigung. Das läuft in die ganz falsche Richtung!

Aber natürlich hat das eine Dame, die jetzt gegenüber von uns sitzt, gesehen. Ihre Augen beginnen zu glänzen und sie stößt Tamara in die Seite. Diese unterbricht das Gespräch mit meiner Mutter und sieht sie fragend an.

»Also ich muss schon sagen, ich finde es wahnsinnig toll, dass sie diesen Ausflug als Familie machen!«, erklärt Mimi.

»Ja, wir haben uns gegenseitig, aus einer schweren Zeit geholfen und sind sehr glücklich, dass sich auch unsere Söhne so gut verstehen!«, meine Mum legt ihrem Freund die Hand auf die Schulter und er nickt bei ihren Worten und lächelt sie an.

»Oh, also sind sie... ein Paar?«, Tamara zieht fragend die Augenbrauen in die Höhe. Sie sieht so verschreckt aus, dass sie uns gar nicht mehr in die Augen sehen kann.

»... Und ich dachte schon...«, haucht Mimi neben ihr und mustert unsere Elternteile noch etwas genauer.

»Was dachten Sie denn?«, Georg runzelt die Stirn und Überforderung überzieht sein Gesicht.

»Ich... vielleicht habe ich einen Hitzeschlag...«, Mimi ist anscheinend der Ohnmacht nahe also helfe ich ihr mit einem: »Ja, so schnell geht das. Da schaut man zu lange in die Sonne und schon beginnt man zu halluzinieren!«, dann lächle ich sie ganz liebenswürdig an.

Hinter verschlossenen Türen [boyxboy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt