19. Kapitel

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Der Montag beginnt mit Regen und schlechtem Wetter. Als mein Wecker sich mit dem schrillen Geräusch meldet, höre ich das Prasseln der Regentropfen an meiner Scheibe. Ich kann mich nach ein paar weiteren Minuten aufraffen, aufzustehen.

Dann erledige ich meine Morgenroutine und hole mir noch einen dickeren Pullover aus dem Schrank, da es so aussieht, als hätte das Wetter abgekühlt. Meine Mum ist schon weg, als ich die Küche betrete. Sie arbeitet in einer Arztpraxis als Sekretärin. Da muss sie schon um sieben Uhr eintreffen. Also bin ich eigentlich am Morgen immer allein.

Ich nehme mir eine Banane, weil ich wenig Hunger habe. In meinem Kopf höre ich die Stimme meiner Mutter. »Ein ausgewogenes Frühstück ist wichtig, Ollie!«, sagt sie immer. Aber wenn mein Magen keine Lust hat etwas zu essen? Wie ist es dann?

Ich streiche mir aber dennoch eine Semmel, die ich in der Mittagspause essen kann und stelle mich ans Fenster. Der Himmel ist grau verfärbt und es sieht so aus, als würde das schlechte Wetter den ganzen Tag anhalten. Ich sehe hinter meinem inneren Auge schon die Blitze zucken. Vielleicht gibt es auch einen Stromausfall. Früher hatte ich Angst vor starkem Gewitter. Mein Dad meinte immer, dass das vorbei geht, und wir haben uns Höhlen gebaut, um uns in Sicherheit zu bringen.

Je länger mein Vater gestorben ist, umso mehr solcher Momente erscheinen in meinen Gedanken. Irgendwie macht es mich traurig, dass ich mich erst jetzt an solche Tage erinnern kann. Als es damals so nah und greifbar war, habe ich mich nie zurückerinnert. Aber so weiß ich, dass ich ihn wenigstens nicht für immer vergessen kann.

Wenige Minuten später mache ich mich auf den Weg in die Garage. Über die Schulter werfe ich mir meinen Rucksack und meinen Autoschlüssel schnappe ich mir vom Tisch in der Garderobe. Ich ziehe graue Schuhe an, von denen ich hoffe, dass sie wasserfest sind.

Dann gehe ich zu meinem Auto, werfe meinen Rucksack auf die Hinterbank und schließe die Tür. Der Weg in die Schule dauert länger als gedacht. Der Regen ist zwischenzeitlich so stark, dass ich das Tempo auf ein Minimum verringern muss. Als ist endlich einen Parkplatz gefunden habe und zur Schule laufe, ist es schon kurz vor dem Läuten. Ich will nicht zu spät kommen, da mein Mathematik-Lehrer kein Freund von Zu-spät-Kommern ist.

Beim Läuten schlüpfe ich in den Raum, mein Lehrer schließt hinter mir die Tür. 

»Guten Morgen, Klasse!«, sagt er und ein paar Schüler ringen sich ein »Morgen«, hervor. Die anderen öffnen nicht einmal die Augen. Schnell setze ich mich in Bewegung und meine Schuhe machen quietschende Geräusche. Ich lasse mich auf den Platz neben Lenny in der letzten Reihe fallen.

»Na, alles klar?«, macht er und grinst mich halbherzig an. Er sieht auch nicht richtig ausgeschlafen aus.

»Ja«, gebe ich zurück.

»Wo bist du am Freitag dann eigentlich hin? Ich habe dich gar nicht mehr gesehen, nach dem Spiel«, sagt er und ich zucke die Achseln.

»Hatte noch was zu tun«, presse ich hervor und er sieht mich nur an. Ich weiß nicht, ob er auf eine Erklärung wartet, doch da der Lehrer in diesem Moment beginnt den Test auszuteilen, wird unsere Unterhaltung vorerst auf Eis gelegt.

»Ich erwarte von dir eine gute Leistung«, raunt er mir zu und seine Augen funkeln gefährlich. Will er mir etwa drohen?

»Bitte?«, mache ich, weil mir nichts Besseres einfällt.

Der Lehrer sieht mich an: »Deine Leistung ist nicht gerade zum Niederknien. Ich muss mich ansonsten darum kümmern, dass dir jemand Nachhilfe gibt.«

Hallo? Nachhilfe ist noch immer meine Entscheidung. Er kann hier nicht mein Leben planen. Und wenn ich Mathe nun mal nicht mag? Kein Mensch braucht dieses Fach nach der Schule jemals wieder. Außerdem gibt es Taschenrechner und Handys.

Ich verdrehe die Augen und erkläre: »Ich werde mich bemühen.« Da er aber keine Anstalten macht, weiter auszuteilen, schiebe ich ein: »Bekomme ich dann noch den Zettel, oder soll ich gleich gehen?«, hinterher.

Er seufzt und ich merke, dass auch er müde ist. Ob von mir, seinem Leben, oder den Schülern weiß ich nicht. Dann legt er mir das Blatt hin und ich schnappe mir einen Kugelschreiber.

Die ersten Beispiele kann ich tatsächlich lösen und sie kommen mir nicht so schwer vor. Beim dritten bin ich kurz überfordert, da ich mich nicht erinnern kann, das gestern geübt zu haben. Beispiel vier und fünf scheinen auch nicht so schwierig zu sein. Ich mache die beiden zuerst und wende mich dann am Schluss wieder dem dritten Beispiel zu.

Als der Lehrer: »Abgeben!«, ruft, bin ich noch immer zu keinem Ergebnis gekommen. Wenigstens konnte ich das andere ausfüllen. Als ich mein Blatt abgebe, sieht er mich kurz an. Da ich seinen Blick jedoch nicht deuten kann, habe ich keine Ahnung, ob der Test gut oder schlecht gelaufen ist. Zumindest stand etwas darauf. Er sollte sich freuen, dass ich nicht das leere Blatt abgegeben habe.

Lenny und ich machen uns nach der Stunde auf den Weg in den ersten Stock, wo wir zwei Stunden Englisch haben. Die Englischlehrerin hat anscheinend richtig gute Laune, denn wir sehen einen Film.

Trotz des schrecklichen Wetters ist es in der Klasse angenehm und nach einer Zeit beginne auch ich, den Tag ein wenig zu genießen. Der Film ist spannend und auch ein wenig lustig. Der würde Tom gefallen.

Erst jetzt fällt mir auf, dass er noch gar nicht da ist. In Mathematik konnte ich mich nur auf den Test konzentrieren und die Gedanken nicht an anderes verschwenden, aber jetzt fällt es mir doch auf. Er ist nicht hier. Vielleicht ist er krank. Hätte er mir dann nicht geschrieben? 

Nein Ollie, ermahne ich mich. Das Problem ist, dass wir nicht einmal normal miteinander sprechen können. Vielleicht wart ihr früher gute Freunde, aber jetzt seid ihr es nicht mehr. Jetzt wird er höchstens Zoe kontaktieren, wenn er nicht in die Schule kommt. Oder, und das erscheint mir nicht einmal so abwegig, er ist sogar bei ihr und macht blau. Wahrscheinlich hat er irgendwen anderen darum gebeten, ihm die Blätter, die wir bekommen, aufzubewahren. Oder es ist ihm ganz einfach egal.

Früher wäre es das nicht gewesen. Tom ist ordentlich und hat Struktur. Die Blätter wären ihm wichtig gewesen. Aber früher waren wir auch noch beste Freunde. Jetzt ist alles ganz anders. 

Hinter verschlossenen Türen [boyxboy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt