48. Kapitel

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Ich gehe schnell zum Tisch zurück. Meine Mutter und Georg unterhalten sich angeregt und scheinen gar nicht zu bemerken, dass ich so lange weg war. Mir soll es nur recht sein.

Langsam lasse ich mich auf die Bank gleiten. Ich greife nach einem Polster und stecke ihn hinter meinen Rücken. So ist es gleich viel gemütlicher.

»Ollie, weißt du, wo Tyler ist?«, fragt sein Vater, als die Kellnerin die Speisekarten auf den Tisch legt.

Ich schüttle den Kopf, weil ich nicht weiß, was ich sagen soll. Klar, er ist in dem Raum vor den Toiletten geblieben. Aber davor haben wir uns gestritten und ich bin davongelaufen.

»Wissen Sie schon, was Sie zu essen möchten?«, fragt die Kellnerin. Sie ist noch ziemlich jung und sieht aufgeregt aus.

»Wir warten noch auf jemanden...«, erklärt Georg und lächelt sie an. Sie strahlt zurück und huscht wieder davon. Ich sehe ihr nach. Vor ein paar Monaten wäre ich ihr nachgegangen, hätte sie um den Finger gewickelt und wir wären in einer hinteren Ecke übereinander hergefallen. Jetzt ist es anders.

»Willst du nachsehen?«, fragt Georg.

Was, wo sein Kind ist? Bitte! Tyler ist alt genug und wenn er jetzt beim Klofenster hinauskriecht und auf nimmer Wiedersehen verschwindet, wäre das auch seine Entscheidung und Georg müsste sie respektieren. Gut okay, das ist vielleicht sehr übertrieben dargestellt.

»Er wird gleich kommen...«, erwidere ich.

»Wir können ja schon mal nachsehen, was es alles Gutes zu essen gibt...«, fordert mich der Freund meiner Mum auf.

Ja, während wir hoffen, dass Tyler wiederkommt...

Ich blättere lustlos durch die Seiten. Mich juckt es in den Fingern die Tür zu den Toiletten wieder aufzumachen. Ich will, dass Tyler neben mir sitzt und nicht traurig auf irgendeiner Kloschüssel.

Als sich die Kellnerin wieder unserem Tisch näher, anscheinend kann sie nicht zählen, denn kein Mensch ist dazugekommen, höre ich wie eine Tür ins Schloss fällt.

Kurz bevor die junge Frau unseren Tisch erreicht, erscheint Tyler in meinem Blickfeld.

»Tyler, schau da ist deine Karte!«, meine Mutter reicht ihm die Speisekarte und lächelt ihn an. Ich höre, wie er beginnt darin zu blättern, traue mich aber nicht, ihn anzusehen.

»Haben Sie sich schon entschieden?«, die Kellnerin hat den Block und Stift gezückt und schaut erwartungsvoll in die Runde.

Georg bejaht und beginnt seine Wünsche aufzuzählen. Anschließend kommen meine Mama und ich an die Reihe. Tyler bestellt als letzter und ich bin erstaunt, dass er so schnell weiß, was er möchte.

Während wir auf die Speisen warten, macht Georg Pläne, wohin es nach dem Essen geht. Er schwärmt von wunderbaren Wanderwegen, die vom Gasthaus wegführen. Mir wird schon schlecht beim bloßen Zuhören. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich außer dem Brötchen am Morgen nichts im Magen habe.

Das Essen wird bald darauf serviert. Obwohl ich hungrig bin und es auch wirklich gut schmeckt, so fällt es mir schwer, das Gesicht nicht zu verziehen, während ich mit meinen Händen das Besteck umfasse.

Die Wunden brennen wie Feuer und ich würde gerne auf Tylers Vorschlag zurückkommen und nach einem Erste-Hilfe-Koffer fragen. Aber ich will nicht angekrochen kommen und einfach möglichst schnell den Tag überstehen und wieder zur Hütte zurückgehen.

Doch Georg scheint anderer Meinung zu sein. Er unterhält sich, nachdem unsere Teller wieder in die Küche getragen wurden, angeregt mit der Wirtin. Sie erzählt, wie lange sie schon diesen Gasthof führt. Anschließend tischt sie uns lustige Geschichten von Besuchern auf.

Die Zeit fließt dahin und als ich das nächste Mal auf mein Handy sehe ist es schon kurz vor zwei Uhr nachmittags.

»So, wir werden weitermüssen...«, Georg klatscht in die Hände und kramt nach seinem Geldbeutel.

»Alles in Ordnung, Ollie?«, meine Mum rutscht neben mich und legt eine Hand auf meinen Rücken.

»Ich... also meine Hände...«, stoße ich hervor und drehe die Handflächen so, dass sie sie betrachten kann.

Meine Mama zieht scharf die Luft ein.

»Resi?«, ruft sie der Wirtin. Ach Gott, jetzt reden sie sich schon mit Vornamen an. Es wird ja immer besser.

»Ja?«, die Wirtin taucht neben uns auf und wir uns einen fragenden Blick zu.

»Ich denke, wir brauchen Verbandszeug...«, sagt meine Mum und schüttelt den Kopf: »Wie kannst du die ganze Zeit so still sein? Das muss ja wahnsinnig weh tun...«

Den Blick, den sie mir zuwirft, ist der gleiche, mit dem sie mich vor zehn Jahren schon angesehen hat, als ich mit dem Fahrrad gestürzt bin und weinend auf der Erde saß.

Resi verschwindet mit schnellen Schritten aus dem Zimmer und meine Mutter winkt Georg zu sich.

»Ich denke, wir sollten zurückgehen... Ollie scheint es nicht so gut zu gehen. Und außerdem ist er sehr blass...«, erklärt meine Mutter Georg.

»Nein, Mum. Wir gehen weiter, ihr wolltet doch so gerne wandern...«, ich schüttle den Kopf. So schlimm ist es nicht, ich werde wohl noch ein paar Stunden durchhalten. Außerdem werde ich diesen ersten Ausflug bestimmt nicht durch irgendwelche Verletzungen kaputt machen.

»Jetzt verbinden wir erstmal deine Hände!«, meine Mama lässt keine Widerworte zu.

Als ich aufschaue kommt Resi mit dem roten Koffer um die Ecke. Tyler hat sich die ganze Zeit zurückgehalten und war eher wortkarg.

Meine Mum diktiert Resi, was sie benötigt und beginnt meine Wunden zu reinigen und danach die Verbände herumzuwickeln. Es brennt, aber lenkt mich von meiner Verunsicherung ab, die in mir brodelt. Tyler will nicht mehr mit mir sprechen und jetzt können sie das Wandern wegen mir auch absagen.

Georg klebt danach alles mit einem braunen Klebeband fest. Ich versuche probehalber zu greifen und bin überrascht, wie gut es trotz den weißen, dicken Verbänden funktioniert.

»Also, danke für die Hilfe, Resi. Kommt ihr?«, meine Mutter hat alles wieder verstaut und gibt den Koffer an die Wirtin zurück.

Tyler und Georg ziehen sich gerade wieder die Jacken an, da sagt ersterer: »Wie wäre es, wenn ihr weitergeht und ich wandere mit Ollie den Weg wieder zurück?«

Bitte? Habe ich auch noch Mitsprachrecht? Ich will das nämlich nicht. Allein der Gedanke daran, dass ich nun mit ihm vier Stunden am Stück gehen muss, lässt meine Laune in den Keller sinken.

»Lassen wir die Jungs doch auch einmal allein etwas machen!«, Georg scheint begeistert von dem Vorschlag. Natürlich ist er begeistert. Schließlich kann er mit meiner Mum allein sein.

Meine Mutter schaut noch ein wenig überfordert drein, aber als Georg ihr seinen Arm um die Taille legt, merke ich, dass sie sich entspannt und dann auch nickt.

»Wir gehen noch eine kleine Route und kommen nach. Passt auf euch auf!«, meine Mama lächelt uns zu und ich werfe ihr hilflose Blicke zu. Doch sie scheint es nicht zu bemerken.

Ich hätte mich gleich von Anfang an, in einem Zimmer einsperren und gar nicht erst mitfahren sollen. Die Zeit wird nicht vergehen. Wir werden uns den ganzen Weg anschweigen und es wird total unangenehm werden, dass weiß ich jetzt schon.

Hinter verschlossenen Türen [boyxboy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt