60. Kapitel

83 10 1
                                    

Mir fällt nichts ein, dass ich darauf erwidern könnte, also sage ich nichts auf seine Worte. Ich nicke nur, zu mehr bin ich nicht im Stande.

Nachdem sich meine Mutter und Tylers Vater wieder zu uns gesellen, machen wir uns auf den Heimweg zurück zur Hütte.

Beim Zurückgehen lasse ich Georg und meine Mum voran laufen, dann folgt Tyler und zum Schluss, mit ein wenig Abstand, wandere ich.

Ich habe das Gefühl, jetzt allein sein zu müssen. Vielleicht muss ich all das Gesagte erst verarbeiten, oder ich will Tyler auch nur aus dem Weg gehen.

Es ist unsere letzte gemeinsame Wanderung. Und auch wenn ich wandern hasse und froh bin, dass wir bald wieder nach Hause fahren, so hatten die Berge doch etwas Beruhigendes, fast Unnatürliches. Vielleicht werde ich sie doch ein wenig vermissen. Zumindest ein kleines bisschen.

Über mir fliegt ein Greifvogel, dessen Art ich nicht zuordnen kann. Er dreht ein paar Runden, so als würde er seine Beute fixieren, fliegt dann aber einen kleinen Haken nach links und verschwindet hinter dem nächsten Berg.

Durch ihn abgelenkt, merke ich nicht, dass Tyler seine Schritte verlangsamt hat und ich nur noch einen Meter hinter ihm gehe. Als er ganz plötzlich stehen bleibt und sich zu mir umdreht, rutscht mir ein erschrockener Laut heraus.

»Was ist los?«, mache ich ein wenig genervt. Ich will nicht ein zweites Mal über meine eigenen Füße stolpern, weil er meint, mir den Weg versperren zu müssen.

»Ich möchte reden...«, erklärt er und verschränkt die Hände vor der Brust.

Ich hätte mir fast die Lippen geleckt, bei diesem Anblick. Er sieht heiß aus. Diese dominante Seite an ihm, ist schärfer, als ich zugeben möchte.

Aber da fällt mir ein, dass ich ja noch immer wütend auf ihn bin, weil er Geheimnisse vor mir hat. Schnell wende ich mich wieder seinen Augen zu. Bevor ich anfange zu sabbern.

»Ich aber nicht!«, erwidere ich und er zieht eine Augenbraue in die Höhe.

»Ach nein?«, jetzt sieht er wütend aus. Na toll. Da hätte er sich wohl vorher überlegen müssen, wem er allen seine Lebensgeschichte erzählt.

»Nope«, ich schüttle den Kopf.

»Also haben wir jetzt Geheimnisse?«

»Wenn du das so nennen willst, bitte. Ja, dann haben wir eben nun Geheimnisse voreinander!«, sage ich und will weitergehen. Unsere Elternteile sind hinter der nächsten Kurve verschwunden. Vielleicht sollten wir besser aufschließen, damit wir uns nicht verlaufen.

»Du weißt schon, dass ich Geheimnisse hasse?«, seine Feststellung klingt wie eine Frage.

Nein, das wusste ich nicht. Aber wie ich jetzt weiß, wusste ich so einiges nicht über ihn.

»Tja, das Leben ist hart...«, mache ich und schiebe mich an ihm vorbei, um Mum und Georg zu folgen.

Er greift nach meinem Unterarm und bevor ich überhaupt weiß, wie mir geschieht, liegen seine Lippen auf meinen und er küsst mich.

Mein erster Reflex ist, ihn wegzuschubsen, ich meine, was fällt ihm überhaupt ein? Es kann sein, dass unsere Eltern wieder zurückkommen und uns sehen.

Aber mein nichtsnutziges Gehirn ist vernebelt und mein Herz rast, als würde es einen Marathon laufen. Also packe ich seine Schultern und ziehe ihn näher an mich heran.

Tyler seufzt in den Kuss hinein und mein Verstand setzt aus. Ich habe vergessen, dass wir uns mitten am Berg, auf einem besuchten Wanderweg befinden. Ich habe unsere Eltern aus den Augen verloren und generell, die Kontrolle über meinen Körper.

Denn mein Gehirn ist der Meinung, dass Tyler noch näher bei mir sein soll. Vergessen ist meine Unsicherheit, dass ich ihn fragen wollte, was mit seiner Mutter passiert ist. Und dass er mit seiner Fragerei wahnsinnig nervig ist.

In einem Reflex schlinge ich meine Arme um seinen Hals und er legt seine Hände um meine Taille. So fest, dass ich fast nicht mehr zu Atem komme, während seine Zunge meine umspielt. Aber atmen ist in so einer Situation sowieso überbewertet.

»Ollie, was machen wir nur?«, seufzt Tyler in den Kuss hinein und ich grinse nur und erwidere: »Knutschen, mitten in freier Wildbahn. Hoffen wir das unsere Eltern nicht zurückkommen, um uns zu suchen...«

»Mhm, die kommen bestimmt nicht wieder zurück.«, grinst er und zieht mich an den Haaren wieder zu sich heran. Ich seufze in den Kuss hinein und meine Knie werden weich, als seine Zunge zwischen meine Lippen gleitet.

»Sieh mal, da vorne! Wie süß!«, eine weibliche Stimme reißt mich aus dem innigen Kuss und schleudert mich innerhalb von Millisekunden wieder in die Realität zurück.

Ah ja, wir waren ja draußen. Im Freien, wo uns jeder sehen kann. Das haben wohl auf zwei Frauen getan, die nun auf uns zukommen.

»Tyler«, mache ich und drehe seinen Kopf mit beiden Händen in die Richtung. Denn sein verschleierter Blick hängt im Moment nur an meinem Gesicht.

»Oh«, stößt er aus.

»Die haben uns jetzt wohl gesehen. Immerhin besser als unsere Eltern, oder?«, fragt er und ich grinse.

Ja, die haben jetzt eine Show geboten bekommen. Aber Tyler weiß anscheinend noch nicht, dass es sein Vater schon lange ahnt. Und ich im Gespräch mit ihm zugegeben habe, dass wir uns wohl etwas mehr mögen als nur auf Stiefgeschwister-Ebene. Vielleicht sollte ich ihn auch mal darüber in Kenntnis setzen.

»Du, Tyler...«, beginne ich, aber in diesem Moment haben uns die beiden Frauen eingeholt und strahlen uns an.

»Wie lange sind Sie denn schon zusammen?«, mache die eine, die ihre hellbraunen Haare mit einer Spange am Hinterkopf befestigt hat. Sie grinst uns an und ich merke, dass sich Tyler neben mir versteift.

Die beiden Damen sehen etwas älter aus als wir beide und außerdem ziemlich neugierig. Wir sollten schleunigst sehen, dass wir wegkommen.

Tja, was sagen wir denn jetzt? Das Stiefgeschwister-Thema sollten wir vielleicht ein wenig ausklammern.

»Ach, schon etwas länger...«, gebe ich zurück und lächle sie an.

»Sie wirken so verliebt!«, die andere Frau, deren blonden kurzen Haare durch eine leichte Brise im Wind wehen strahlt, als hätte sie noch nie ein verliebtes Paar gesehen.

»Sind wir auch...«, macht Tyler und lächelt zurück. Und siehe da, die beiden sehen aus, als würden sie gleich in Ohnmacht fallen.

Halt, stopp! Das ist meiner. Die beiden müssen auch keinen Wimpernaufschlag aufsetzen. Außerdem wissen wir doch alle, dass Tyler auf Männer steht. Und da ich zufällig einer bin, nehme ich wohl seine größte Aufmerksamkeit ein.

»In welche Richtung müssen Sie denn?«, fragt die, mit den braunen Haaren.

»Hier den Weg entlang. Und Sie beide?«, erkundigt sich Tyler, der wahre Gentleman. Sein Ernst? Jetzt werden sie uns begleiten. Und meine Zweisamkeit mit Tyler ist dahin. Außerdem will ich nicht ausgequetscht werden, wie eine überreife Zitrone.

Aber die beiden Frauen sind jetzt Feuer und Flamme, vor allem, nachdem Tyler ihnen anbietet, gemeinsam mit uns zu wandern.

Schön, dass ich auch noch Mitsprachrecht habe. Mit einem Seufzen gehe ich den dreien hinterher, denn sie sind schon in einem sehr lebhaften Gespräch versunken.

Hinter verschlossenen Türen [boyxboy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt