3. Kapitel

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Mein Blick geht durch die Menschenmenge und bleibt an Lenny hängen. Er steht ein paar Meter weiter weg und er gehört zu denen, die auch in meine Klasse gehen. Er bemerkt meinen Blick und nickt zu mir hinüber. Ich nicke auch.

»Kommst du?«, fragt Tom und sieht mich an. Er hat fertiggeknutscht. Schön. Seine Lippen sind ein wenig gerötet. Ich weiß nicht, ob es von der Farbe oder von den vielen Küssen kommt. Also halte ich meinen Mund und setze mich in Bewegung und gehe neben ihm her.

Es ist noch immer ungewohnt, dass wir nichts reden, bis wir im Schulgebäude ankommen. Ich weiß auch nicht, was ich sagen soll. Und sein liebstes Thema ist Zoe. Ich bin mir zu hundert Prozent sicher, dass sie schon miteinander geschlafen haben. Wahrscheinlich wird er mir auch das nie erzählen. Denn über mehr als Smalltalk kommen wir nicht hinaus. Ich seufze und biege im Schulgebäude links ab.

Dann stehen Tom und ich vor der Klasse. Die Tür ist geöffnet und als wir sie betreten, sind schon fast alle Plätze besetzt.

»Ich setze mich gleich da hinten hin«, erklärt Tom, geht an mir vorbei und mir bleibt gar nichts anderes übrig, als mich ganz vorne auf den Platz fallen zu lassen.

Als die Lehrerin die Klasse betritt, bin ich schon nicht mehr anwesend. Zumindest geistig nicht mehr.

»Oliver? Ich denke, du kannst meine Frage beantworten?«, reißt mich eine Stimme aus meinen Tagträumen. Es ist eine weibliche Stimme.

Natürlich habe ich vergessen, dass ich in der ersten Reihe sitze, somit vor der Lehrerin, die sich jetzt einen Spaß daraus macht, dass ich nun die Antwort nicht weiß. Ich ziehe eine Augenbraue in die Höhe. Ich bin nicht der Beste in der Schule. Eigentlich ist das untertrieben, ich bin nicht mal annähernd so gut wie der Durchschnitt. Das kommt wahrscheinlich auch davon, dass ich mich nicht sonderlich anstrenge. Mir ist ziemlich egal was ich nach der Schule mache, solange ich Geld verdiene.

Meine Eltern waren immer anderer Meinung. Sie wollten, dass ich einen Job lerne, den ich gerne mache und in dem ich aufgehe. Doch seitdem es zu Hause mehr darum geht Geschehnisse zu verarbeiten sind meine Noten und mein weiteres Leben das kleinste Problem.

»Ich weiß die Antwort nicht«, sage ich geradeheraus, was soll ich schon herum lügen? Ich habe sowieso keine Ahnung.

Ihr Mund verzieht sich zu einem schmalen Strich und ihre Gesichtszüge werden bitter. Weiß sie, wie hässlich sie aussieht? Am liebsten würde ich sie das fragen, doch ich will unser Verhältnis nicht noch mehr verschlimmern.

»Bitte folge dem Unterricht ein wenig mehr, damit tust du dir nur etwas Gutes, glaub mir!«, sagt sie bissig und wendet sich ab.

Ein paar Idioten lachen, ich drehe mich mit grimmigem Gesicht um, sofort ist es leise. Wetten, sie hätten die Frage auch nicht beantworten können?

»Ich tue mir viel Gutes, glauben Sie mir...«, murmle ich so leise, dass sie es nicht verstehen kann, versuche aber trotzdem ein wenig zuzuhören.

Als es läutet, packe ich meine Sachen zusammen und verschwinde so schnell es geht aus der Klasse. Wenn ich zu lange warte, fängt die Lehrerin vielleicht noch mit Nachhilfe an. Das würde mir gerade noch fehlen.

»Ollie?«, ich höre eine Stimme und Lenny kommt auf mich zugelaufen.

Ich bleibe stehen. »Ja?«, mache ich und sehe ihn abwartend an.

»Bist du heute wieder dabei?«, ich verstehe schnell, dass er die Feier meint, die heute steigt.

»Klar, ich treffe mich vorher noch mit Tom, wir gehen gemeinsam«, erkläre ich ihm.

»Okay, dann sehen wir uns dort!«, er schlägt mit mir ab und läuft den Flur entlang.

Ich nehme die Abkürzung und gehe über den Hof zu den Parkplätzen. Ich habe keine Lust auf Schule. Ich weiß, dass es meinen Notendurchschnitt nicht weiter in die Höhe treibt, wenn ich schwänze, aber ich will nicht mehr.

Während ich zu meinem Auto laufe, komme ich bei ein paar Schülern vorbei, die in einer Ecke hinten im Pausenhof rauchen. Was tatsächlich verboten ist, aber wer verstößt nicht gern gegen die Regeln?

Am Parkplatz angekommen springe ich schnell in mein Auto und starte es. Mit der linken Hand parke ich rückwärts aus und mit der rechten starte ich das Radio.

Nach fast 20 Minuten suche ich einen Parkplatz in der Nähe des Parks. Als ich einen gefunden habe, schiebe ich ein paar Mal zurück, um die Parklücke zu füllen.

Dann hole ich meinen Rucksack hervor und gehe den Weg unter den Ahornbäumen entlang, bis ich in den Teil des Parks komme, wo keine Menschen sind. Der Weg endet mit ein einer Schranke, die signalisiert, dass man nicht weiter gehen sollte. Sollte. Ich gehe trotzdem weiter und komme dann zu einem kleinen Häuschen, das früher von Jägern benutzt wurde. Jetzt ist es heruntergekommen und die Balken schief. Doch es gibt darin eine kleine Couch und einen Holztisch, der wackelt. Tom und ich haben als Kinder hier öfter übernachtet oder gespielt.

Ich drücke die quietschende Tür auf und trete hinein. Obwohl das Wetter nicht mehr so warm ist, ist es hier doch ganz angenehm.

Ich lasse mich auf die grüne, leicht vergilbte Couch fallen und strecke mich aus, bis meine Füße über die Lehne hängen. Sie ist ein wenig unbequem, aber ich denke, dass ich hier ein paar Stunden aushalten kann. Ich schließe die Augen und bin ein paar Minuten später eingeschlafen.

Ich werde wach, als mein Handy einen Ton von sich gibt. Ich taste blind danach und merke, dass mein Arm eingeschlafen ist und jetzt kribbelt. Ich schüttle ihn aus und öffne ein Auge. Nur irgendjemand, der kein Leben hat und Fragen in der Klassengruppe stellen muss. Toll. Ich gähne, aber mir ist bewusst, dass ich jetzt nicht mehr einschlafen kann.

Nach einem kleinen Spaziergang durch den Park, gehe ich ein wenig später zurück zu meinem Auto. Es sind fast keine Menschen unterwegs, wahrscheinlich müssen sie arbeiten oder sollten in der Schule sitzen.

Bei meinem Auto angekommen, stecke ich mich noch einmal, bis es knackst. In die Hütte muss eine neue Couch hinein. Eindeutig. Ich lass mich auf den Fahrersitz fallen und schließe die Tür hinter mir. Dann parke ich aus und fahre nach Hause.

Vor der Garage angekommen, betätige ich den Schalter, dass das Tor sich automatisch öffnet. Dann rolle ich hinein und schließe das Tor wieder.

Anschließend gehe ich ins Haus und die Tür fällt hinter mir ins Schloss. Es bleibt einen Moment still, bevor die Stimmen in meine Richtung klingen. Meine Mutter ist da und eine Freundin ist bei ihr. Wahrscheinlich machen sie ihren wöchentlichen Klatsch- und Tratschabend. Ich will mich unauffällig an der Tür vorbeischieben, aber meine Mutter hat Ohren wie ein Luchs.

»Ollie?«, höre ich ihre Stimme.

»Ja, ich bin es Mum. Ich gehe gleich in mein Zimmer, hab noch einiges an Hausaufgaben auf!«, rufe ich zurück. Ihre Antwort warte ich nicht ab, sondern schiebe mich die Holzstiegen hinauf. Schnell weg hier, bevor Mums Freundin irgendein Gespräch beginnt, vor dem ich nicht fliehen kann.

Oben in meinem Zimmer angekommen schmeiße ich den Rucksack in eine Ecke. Als würde ich jetzt Hausaufgaben machen. Ich habe besseres zu tun. Mit ausgestreckten Gliedmaßen schmeiße ich mich auf das Bett, dass es unter mir knackt. Ich atme einmal aus.

Von meinem Nachttisch schnappe ich mir meine schwarzen Kopfhörer und setze sie auf. Ich wähle einfach ein Lied aus und gehe danach auf Shuffle. Die ersten Töne erklingen und ich schließe die Augen. Für einen kurzen Moment denke ich an nichts, doch dann kommt alles wieder.

Es dauert nicht lange, vielleicht zwei Lieder später, da spüre ich einen Luftzug und blinzle. Natürlich steht meine Mutter in meinem Zimmer.

»Ollie, ist etwas passiert?«, im Normalfall und wenn ich mich nicht zusammenreißen könnte, würde ich sie jetzt anfahren, was sie hier macht. Aber ich weiß, wie schwer sie es hat und ich will nicht der Sohn sein, der sie dann auch noch traurig macht.

»Gar nichts, nur ein harter Tag...«, versuche ich zu erklären, obwohl es absolut nicht der Wahrheit entspricht. Ich habe nur eine Stunde in der Schule verbracht und habe mich dann in eine alte Hütte verkrochen. Eigentlich bin ich genervt und wütend und einsam, alles auf einmal. Seit wann ist es so schwer geworden, meine Gefühle in Worte zu fassen?

Und mein Vater? Der wäre auch nicht äußerst glücklich, wenn er sehen würde, was aus mir geworden ist.

Hinter verschlossenen Türen [boyxboy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt