58. Kapitel

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Wir verbringen die nächsten Minuten ineinander verschlungen, mit Küssen und Festhalten. Wer hätte gedacht, dass ein Ausflug auf einer Hütte so romantisch werden würde? Ich jedenfalls nicht.

Als wir Schritte hören, fahren wir auseinander und setzen uns einen halben Meter entfernt hin. Ganz unauffällig natürlich.

Meine Mum schaut bei der Tür herein und lächelt uns an: »Jungs, wir wollen noch einen kleinen Spaziergang machen, kommt ihr mit?«

Noch einmal wandern? Meine Füße sind bestimmt schon voller Blasen. Aber da meine Mutter so bittend dreinschaut, sage ich schließlich „ja".

Ich spüre Tylers erstaunten Blick auf mir.

»Was?«, mache ich und zucke die Achseln.

Wir werden es ja wohl schaffen, uns in den nächsten Tagen irgendwo zu verkriechen und Zärtlichkeiten auszutauschen.

»Komm, steh auf. Je eher wir starten, desto schneller sind wir fertig!«, erkläre ich ihm und ziehe Tyler auf die Füße. Der sieht noch immer nicht richtig begeistert aus.

»Da hast du wohl recht...«, seufzt er und wir machen uns auf den Weg nach oben. Dort ziehen wir uns in den Zimmern an. Jeder in seinem eigenen, so wie es sich gehört und gehen die Stiegen hinunter.

Meine Mama und Georg stehen schon bei der Tür. Die beiden sehen ausgeschlafener aus, als ich mich gerade fühle.

»Das ist unsere letzte Tour, genießt es!«, fordert uns der Vater von Tyler auf.

Oh ja, das werde ich bestimmt. Ich habe ja auch so wahnsinnig viel Spaß beim Wandern.

Tylers Blick begegnet meinem. Er grinst. Mir wird ganz warm. Ich lächle zurück und hoffe, dass unsere Elternteile diese warme, strahlende Hülle nicht bemerken, in der wir schweben.

Mir scheint, als ist es für alle sichtbar. Doch anscheinend, kommt es nur mir so vor.

Wir starten unsere Wanderung. Weit hinten am Horizont ist es hell und das Wetter ist zwar etwas kühl, aber angenehm, um zu wandern.

Dieses Mal bleibt mir keine Möglichkeit, um mit Tyler zu gehen, denn meine Mutter nimmt ihn ganz für sich ein. Da der Weg schmal ist, bleibt mir nichts anderes übrig, als neben Georg her zu gehen.

»Alles okay mit dir?«, erkundigt er sich und ich spüre seinen Blick auf mir. Er versucht mich zu lesen, sich möglichst schnell ein Bild zu machen.

Vielleicht sieht er diese Hülle. Diese Gefühle, die zwischen seinem Sohn und mir stehen. Ich weiß es nicht. Aber nach ein paar Sekunden wird sein beobachtender Blick weich und ich atme kaum hörbar aus. Anscheinend habe ich bestanden, um was es sich handelt, weiß ich nicht so genau.

»Ja, es ist alles in Ordnung«, erkläre ich. Was soll ich auch groß sagen?

»Und Tyler und du... Ihr versteht euch gut?«, fragt er und ich habe das Gefühl, dass ich kurz davor bin, zu ersticken.

Er weiß es. Er weiß es! Wie konnte ich nur glauben, das mit Tyler und mir wäre für Erwachsenenaugen unsichtbar?

»Ja, natürlich«, behaupte ich und wende meinen Blick auf den Weg vor mir.

Eigentlich dachte ich, dass ich gut lügen kann, aber ich habe das Gefühl, egal was ich jetzt sage, es ist falsch.

»Schön, das freut mich!«, sagt Georg und dann murmelt er: »Tyler hatte eine schwere Zeit...«

»Wieso?«, erkundige ich mich. Ich weiß über meine schwere Zeit bescheid und mich würde schon interessieren, wie es Tyler in den letzten Jahren ergangen ist.

Dieser und meine Mama sind schon einige Meter vor uns und unterhalten sich angeregt. Er gestikuliert mit den Händen und meine Mutter lacht.

Schön, dass ihre Konversation toll zu sein scheint, ich habe nämlich das Gefühl, dass Georgs und meine, weniger lustig werden wird.

»Hat er dir etwas über Silvia, seine Mutter erzählt?«, hakt der Freund meiner Mum nach.

Nein, das hat er nicht. Ich dachte, dass ihn dasselbe Schicksal wie mich erschüttert hat. Anscheinend doch nicht. Ich schüttle den Kopf und Georg seufzt.

»Das habe ich mir schon gedacht...«

»Ich habe gehofft, er öffnet sich und vertraut sich dir an, weil ihr ja ein gutes Verhältnis habt...«, erzählt er und ich halte mich zurück, Georg auf das Schienbein zu treten.

Wie oft will er jetzt noch sagen, dass Tyler und ich uns verstehen? Ich weiß, dass er bescheid weiß. Und ich merke, dass er sich einfach Sorgen um seinen Sohn macht und er Hoffnung in mich gesetzt hat.

Hoffnung, die ich nicht erfüllen konnte. Anscheinend ist Tyler genauso verschlossen wie ich und kann wohl gut schauspielern.

»Was ist mit ihm passiert? Kannst du es mir erzählen?«, frage ich und meine Stimme zittert. Jetzt bin ich an dem Punkt, an dem ich mir auch Gedanken mache und Angst habe, was mit ihm passiert sein könnte.

»Tylers Mutter ist gegangen. Sie hat ihn mit fünfzehn Jahren allein gelassen...«, sagt Georg und ich lausche seinen Erzählungen.

»Eigentlich waren Silvia und ich fast zwanzig Jahre zusammen und haben kurz vor Tylers Geburt geheiratet.

Am Anfang war alles in Ordnung, wir waren verliebt und ich wollte unbedingt Kinder. Ich weiß nicht, warum mir Silvia nie gesagt, hat dass sie keine möchte, oder dass sie durch ihre eigenen Familienverhältnisse einfach Angst und Sorge hatte, Kinder aufzuziehen.

Tyler wurde geboren und ich war glücklich, habe aber nicht gemerkt, dass sie sich immer weiter von uns abgegrenzt hat. Silvia konnte einfach nicht mit Kindern umgehen. Als ich nicht da war, hat sie ihn geschlagen und angeschrien und es hat Jahre gedauert, bis ich es herausgefunden habe.

Ich weiß nicht, ob ich blind war oder einfach zu glücklich, um es zu merken. Ich habe es aber schließlich herausgefunden und wollte mich trennen. Wir haben dann ein paar Jahre nicht mehr zusammengelebt und uns nach und nach wieder zusammengerafft. Silvia hat eine Therapie gemacht und ich habe gehofft, dass sich alles geändert hat.

An Tylers zehnten Geburtstag haben wir uns schließlich ein Haus gekauft und es noch einmal versucht. Ich dachte, jetzt ist es so, wie ich es mir immer vorgestellt habe. Tyler hat damals angefangen, auch wenn er es selbst nicht richtig realisieren konnte, Gefühle für Jungen zu entwickeln. Ich hatte nie ein Problem damit, aber Silvia schon.

Und als Tyler mit vierzehn Jahren irgendwann zusammengebrochen ist und mir unter Tränen gesagt hat, dass es ihm leidtut, dass er Jungs lieber hat als Mädchen, da ist bei mir eine Sicherung durchgebrannt.

Und ab diesem Zeitpunkt wusste ich, dass es vorbei ist. Dass diese Schikane wieder begonnen hat und dass ich Tyler für immer beschützen wollte. Ich habe sie hinausgeworfen und Tyler versprochen, dass ich sie nie mehr in unser Leben lasse.

Ich habe meinen Sohn dazu gebracht, dass er eine Therapie macht und dennoch hat er sich abgegrenzt, war nur noch allein und ich hatte das Gefühl, dass er nach und nach verschwindet. Er war so verzweifelt und traurig und mir hat es das Herz zerrissen, ihn so zu sehen.

Außerdem hat Tyler auch seinen Traum aufgegeben, ein Studium zu absolvieren und stattdessen diesen Job im Kaufhaus begonnen.

Erst nach und nach konnte er sich wieder öffnen, hatte dann auch Beziehungen. Aber so richtig glücklich war er nie. Bis zu dir...«

Hinter verschlossenen Türen [boyxboy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt