59. Kapitel

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Bis zu mir...

Georg sieht mich an. Ich wische mir die Tränen von den Wangen, die ich bei seiner Erzählung vergossen habe. Ich habe mit Tyler gelitten. Mir tut das Herz weh, dass Tyler solche Dinge erleben musste und ich ihm nicht helfen konnte.

Ich kann mir auch gar nicht vorstellen, wie schlimm das für ihn gewesen sein musste. Diese Ablehnung zu erfahren und seine geheimen Wünsche verstecken zu müssen. Vor allem, weil er damals noch so jung war und selbst noch nicht so genau wusste, ob es richtig oder falsch ist.

Tyler und meine Mutter, die etwas vor uns gehen, haben von der trüben Stimmung, die bei uns beiden herrscht, nichts bemerkt. Sie gehen weiterhin leise sprechend nebeneinanderher.

»Ich fasse es nicht, dass er mir nichts gesagt hat...«, hauche ich und schüttle entgeistert den Kopf.

Ich fühle mich seltsam hintergangen, obwohl ich natürlich weiß, dass dieses Thema sehr privat ist und eigentlich auch nur Tyler und Georg etwas angeht. Dennoch bin ich enttäuscht.

»Es hat ihn stärker getroffen, als er zugeben möchte...«, seufzt Georg und ich erwidere: »Ich wusste nicht, dass er so ein Geheimnis mit sich trägt...«

Weil es stimmt. Jeder hat doch irgendwo, irgendwelche Geheimnisse, die er lieber für sich behält. Aber das ist einfach eine halbe Lebensgeschichte, die Tyler wahnsinnig geprägt hat. Und das auf keine gute Weise.

Am liebsten würde ich Silvia, die eine Mutter ist, wie ich sie keinem wünsche, eine richtige Lektion erteilen. Wie kann sie nur? Wenn ich sie jemals treffen werde, kann es leicht sein, dass sie in der nächsten Grube verschwindet. Auf unerklärliche Weise versteht sich.

»Soll ich ihn denn darauf ansprechen?«, frage ich den Freund meiner Mutter.

»Das bleibt dir überlassen, hör auf dein Herz...«, fordert mich Georg auf und ich würde am liebsten die Augen verdrehen. Er ist ja mal eine riesige Hilfe!

Tyler und meine Mama sind vor uns stehen geblieben und wir schließen zu ihnen auf.

»Na, was ist los? Ihr seht so ernst aus...«, meine Mum lächelt uns an und streicht Georg über den Oberarm.

Ja, weil unser Thema total traurig war, während ihr beide euren Spaß hattet.

»Wir haben uns nur ein wenig unterhalten...«, weicht dieser ihr aus.

Und ich fühle richtig, wie Tyler sich neben mir versteift. Ich spüre seinen stechenden Blick auf mir, traue mich aber nicht, ihn richtig anzusehen.

Wahrscheinlich würde er sofort sehen, dass wir über seine Vergangenheit gesprochen haben. Und jetzt auf dieser letzten Runde, möchte ich die Stimmung nicht verderben. Ich kann auch später noch seine alten Wunden aufreißen.

Vielleicht wenn wir ohne unsere beiden Elternteile sind und ich ihn nicht vor ihnen blamiere oder zum Weinen bringe. Ich meine, ich will ihn nicht überfordern. Schließlich ist es sein Leben und seine Geschichte.

»So... Vielleicht finden wir noch einen schönen Ausblick. Ich möchte unbedingt noch ein Foto machen!«, meine Mutter strahlt uns an und scheint nichts von der leicht gedrückten Stimmung zu merken.

»Wie wäre es mit den Bergen und dem kleinen Gipfelkreuz im Hintergrund?«, Tyler deutet nach links.

»Ja, das ist perfekt!«, meine Mama scheucht uns in die besagte Richtung.

Ich will mich gerade neben Georg stellen, da schüttelt meine Mum den Kopf.

»Doch nicht richtig?«, frage ich und sie erwidert: »Die Farbe deines Pullovers passt viel besser zu Tylers!«

Ich muss mich sehr stark zusammenreißen, dass ich nicht die Augen verdrehe. Es ist doch komplett egal, welche Pulloverfarbe besser zur anderen passt. Meine Mama ist manchmal wirklich sehr kleinlich.

Doch anscheinend ist es meiner Mutter wirklich so wichtig, dass sie nicht beginnt Fotos zu schießen, bevor ich nicht an der richtigen Stelle platziert bin.

Ich stelle mich also neben Tyler und versuche ein paar Millimeter zwischen uns Platz zu lassen, damit ich meine letzten Funken Anstand bewahren kann.

Ihn zu berühren, fühlt sich immer wieder auf neue atemberaubend an und ich weiß nicht, ob ich mich zusammenreißen kann, wenn sich unsere Haut berührt. Auch wenn es nur ein kleines Stück Haut an der Hand ist.

»So, vielleicht sollten wir uns jemanden suchen, der das Bild macht...«, meine Mum blickt sich suchend um. »Ich möchte ja, dass wir alle als Familie auf dem Foto zu sehen sind!«

Familie fühlt sich irgendwie falsch an. In meinen Augen sollte „Familie" nicht übereinander herfallen und familiäre Dinge tun, die weniger Haut-an-Haut-Kontakt beinhalten.

Aber ich sage nichts, schließlich soll meine Mama ihr Familienfoto haben, dass sie sich so wünscht. Sie hat es früher schon geliebt, Momente in Fotos festzuhalten.

»Oh, da hinten kommt eine Gruppe... Wartet ein paar Minuten, dann kann ich sie fragen, ob sie ein Bild schießen!«, fordert sie uns auf.

Okay, dann muss ich die nächsten Minuten zwischen Tyler und dem Abgrund verbringen, der sich links von mir befindet. Besser kann es nicht werden.

»Alles in Ordnung bei dir?«, fragt mich dieser auch noch und ich überlege, ob der Abgrund vielleicht keine so schlechte Alternative für mich wäre, um seinen Fragen zu entkommen.

»Ja, natürlich!«, ich lächle ihn an, so wie Stiefbrüder das nun mal so machen. Ich hoffe mein Lächeln sah echt aus und er nimmt es mir ab.

»Bist du dir sicher?«, hakt Tyler noch einmal nach. Ihm entgeht aber auch wirklich nichts. Toll, ganz toll.

Ich nicke nur, aber in Wahrheit möchte ich ihn fragen, warum er seine Vergangenheit vor mir verheimlicht. Warum er mir nicht erzählt, was mit ihm passiert ist. Warum er mir nicht vertraut.

»Ist der Hintergrund auch gut auf dem Bild zu sehen?«, meine Mutter reißt uns aus dem Gespräch und quetscht sich zwischen Tyler und Georg.

Die Dame, die jetzt ihr Handy in der Hand hält, nickt und zählt von drei herunter, bevor sie einige Fotos schießt.

Ich weiß nicht, ob ich lächle, so wie man das auf Bilder mit seiner Familie normalerweise tut. Ich weiß nur, dass ich so schnell wie möglich mit Tyler allein sprechen möchte.

Aber auf einem Wanderausflug mit beiden Elternteilen und zwei paar neugierigen Augen ist das schwieriger als gedacht.

Während Georg und meine Mum noch mit der Frau sprechen, die die Fotos gemacht hat, stehen Tyler und ich etwas abseits und schauen in die Ferne.

Es ist fast schon merkwürdig, wie ruhig es ist. Mal abgesehen von dem aufgeregten Geplapper der Erwachsenen.

Allerdings nur so lange, bis es Tyler neben mir nicht mehr aushält und fragt: »Du willst es mir also wirklich nicht sagen?«

»Nein, Tyler...«, erwidere ich und konzentriere mich wieder auf den Ausblick.

»Aber etwas ist doch mit dir?«, seine Vermutung klingt tatsächlich eher wie eine Frage.

»Ich... Hör mal, ich bin einfach müde und will ein wenig Ruhe, das ist alles...«, erkläre ich und drehe mich von ihm weg. Für mich endet das Gespräch hier, bevor ich ihn noch vor unseren beiden Elternteilen beginne, auszuquetschen.

»Okay«, ich fühle seinen Blick, der über mein Gesicht fährt und weiter nach Anzeichen sucht. Er analysiert mit seinem Blick.

Ganz kurz sieht es so aus, als würde er mit seiner Hand über meine Wange fahren wollen, doch er hält sich zurück. »Aber falls du es dir doch anders überlegst, höre ich dir zu.«

Hinter verschlossenen Türen [boyxboy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt