27. Kapitel

111 12 6
                                    

»Steig schon ein!«, meine Mutter, die wütend klingt, zieht mich in Richtung des Autos und ich gebe meine Sachen auf die Rückbank.

Dann steige ich auf den Beifahrersitz und mache die Tür hinter mir zu. Ich greife mit der Linken hat über meine Schulter und merke, dass meine Seite schmerzt. Anscheinend hat mich Tom auch dort getroffen. Das wird einen blauen Fleck geben.

Die Stille im Auto begleitet mich, bis wir zu Hause ankommen. Meine Mum sagt kein Wort. Ich weiß, dass ich sie enttäuscht habe. Gewalt ist keine Lösung, darin bin ich mir bewusst. Aber ich war so wütend und ich habe irgendwie das Denken ausgeschaltet.

Als ich das erste Mal hingeschlagen habe, habe ich schnell gemerkt, dass es unsere Freundschaft nicht mehr rettet, vielmehr zerstört. Aber aufgeben war keine Option. Konnte ich das Gefühl, dass in mir brodelte weder ausschalten noch unterdrücken. Erst, als ich Toms demoliertes Gesicht vor mir sah, wusste ich, dass ich zu weit gegangen war.

Wir fahren in die Garage und ich steige aus, sobald der Wagen steht. Ich schnappe meine Sachen und gehe ins Haus. Ich kann vor meinem inneren Auge sehen, wie mein Vater mit so einer Situation umgegangen wäre. Er hätte mir einen langen Vortrag gehalten, über Streitprävention und zum Ende hin, hätte ich verstanden, dass das was ich getan hatte, falsch war. So war es immer.

Aber mein Dad war nicht mehr da und meine Mutter kann umso schwerer mit solchen Situationen umgehen. Ich weiß selbst, dass sie mit sich hadert und sie überlegt, was sie sagen soll.

Sie kommt ins Haus und sieht mich stumm an. Ich weiß, was ich falsch gemacht habe. Ich weiß es. Und unter ihrem Blick werde ich ganz starr. Ich kann nicht mehr richtig atmen und meine Augen werden glasig.

»Es tut mir leid...«, krächze ich schließlich und meine Stimme zittert zum Ende hin.

»Es tut mir so leid«, ich weiß nicht, was ich sagen soll, kann keine Worte fassen und mein Mund wird ganz trocken.

»Was ist los, Ollie?«, fragt meine Mutter sanft und in dem Moment, in dem sie meinen Namen sagt, gebe ich auf. ich schlage die Hände vors Gesicht und beginne zu weinen. Heiße Tränen benetzen meine Hände und ich werde von Schluchzern geschüttelt. Ich glaube, es ist das erste Mal, dass ich nach dem Tod meines Vaters weine.

Es fühlt sich an, als würde meine schwarze Seele, langsam wieder Farbe bekommen. Als würden die Tränen all den Kummer, der auf mir lastet, fortwaschen. Ich stehe noch immer weinend vor meiner Mum und ich sehe durch den Tränenschleier, dass sie näherkommt.

»Hey«, sagt sie leise und drückt mich an sich. Obwohl ich viel größer und auch breiter bin als sie, behandelt sie mich, als sei ich zerbrechlich. Ihre Hände umfassen mein Gesicht und sie zwingt mich, ihr in die Augen zu sehen.

»Was ist passiert?«, erkundigt sie sich dann. Ich weiß nicht, was ich ihr sagen soll. Ich will nicht, dass sie sich Sorgen macht. Aber nach meinem Tränenausbruch, wird sie das wohl oder übel tun.

»Ich kann nicht...«, flüstere ich und presse die Lippen zu einem Strich zusammen. »Ich kann das nicht...«, sage ich noch einmal. Obwohl ich nicht weiß, ob ich nicht reden kann, oder die Gefühle, die in mir brodeln einfach nicht in Worte fassen kann.

Es fühlt sich an, als halten mich Hände umschlossen. Hände, die sich weder warm noch sehr angenehm anfühlen. Hände, die mich eher nach unten ziehen, als loszulassen.

»Ich bin da... Falls du reden möchtest«, flüstert sie und sie umfasst meine Schultern und drückt sie kurz. Dann lässt sie mich los. Ich atme einmal durch und streiche die letzten Tränen von meinen Wangen. Ich sehe ihr nach, als sie aus dem Raum geht. Ich weiß, dass sie mich zu nichts drängen will.

Als die Tür hinter ihr ins Schloss fällt, herrscht Stille. Doch in mir tobt der Sturm. Die Trauer ist einer Wut gewichen. Am liebsten möchte ich wieder auf Tom einschlagen, vielleicht stillt das Gefühl dann meinen Hass. Ich ziehe mein Handy aus dem Rucksack, den ich mir von der Rückbank geangelt habe.

Drei ungelesene Nachrichten. Zwei von Lenny und eine von einer unbekannten Nummer. Ich verdrehe innerlich die Augen. Wer teilt hier meine Handynummer aus, ohne mich zu fragen?

Als ich den Chat mit einem Tippen öffne, bleibt mir kurz das Herz stehen. Als es weiterschlägt, wird mein Körper von einer Hitze erfüllt, die mir den Schweiß auf die Stirn treibt.

Das ist er. Das ist Tyler.

Wo hat der denn meine Nummer her? Ich habe seine bekommen, aber ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern, dass ich ihm meine auch zugesteckt habe. Vielleicht war ich doch zu betrunken damals.

Aber wieso hat er mir nicht schon früher geschrieben? Gekonnt hätte er es auf jeden Fall. Gut, wenn ich ganz ehrlich bin, hätte ich auch meine Angst überwinden können und ihn zuerst anschreiben können.

Tyler: Ollie, wie geht es dir?

So lautet seine Nachricht. Ich muss schlucken. Vielleicht kann er Hellsehen. Ich kneife die Augen zusammen. Auch wenn ich nicht an so etwas glaube, woher hätte er sonst wissen sollen, dass ich ihn jetzt, genau in diesem Moment, so dringend brauche?

Ich drehe das Handy in meinen Händen hin und her. Der Bildschirm wird schwarz und leuchtet dann wieder. Was soll ich nur tun? Sei kein Feigling, ermahne ich mich selbst. Ich werde wohl eine kurze Nachricht zurückschreiben können.

Langsam tippe ich die Wörter ein. Ich lösche und schreibe. Dann lösche ich wieder. Ach Gott, ich bin doch sonst nicht so komisch. Als sich sein Status plötzlich auf „online" ändert, beginnt mein Herz zu schlagen. Ich verhalte mich wie ein 12-Jähriges Mädchen, dass das erste Mal mit seinem Crush schreibt.

Okay, ich kann das. Ich drücke auf Senden und der Text erscheint mit zwei Häkchen, die aber grau bleiben.

Ich: Im Moment nicht wirklich blendend.

Hoffentlich hält er mich nicht für einen Loser, nach so einer Nachricht. Aber so ist Tyler nicht. Ihm war wichtig, wie es mir ging und er kümmerte sich um mich. Auf eine herzzerreißend süße Weise. Als nach ein paar Minuten noch immer keine Nachricht eintrifft, seufze ich und zwinge mich aufzustehen.

Ich werfe mir den Rucksack, der noch neben mir liegt, über die Schulter. Dann gehe ich hoch in mein Zimmer. 

Hinter verschlossenen Türen [boyxboy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt