Chapter 40

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Ungläubig musterte ich meinen kleinen Bruder und merkte, wie sich sofort ein Lächeln auf meinen Lippen ausbreitete. "Du hast mich erkannt?", flüsterte ich überwältigt und ging auf Finn zu, bis ich direkt vor ihm stand. Wie sich unsere anderen Geschwister im Hintergrund mit Klaus stritten, bekam ich kaum mit.

"Ich würde dich überall erkennen", antwortete Finn leise und streckte eine Hand nach mir aus, um sie an meine Wange zu legen. "Ich verstehe es nur nicht. Wie kannst du hier sein?"

"Erinnerst du dich noch daran, wie Dahlia Freya und mich geholt hat?", fragte ich kaum hörbar, auch wenn ich wusste, wie unwahrscheinlich das war. Er war noch so jung gewesen...

Einige Sekunden starrte mich Finn schweigend an, bis sich seine Augen weiteten. "Mutter hat immer gesagt, dass es nur ein Traum von mir war. Dass ich davon geträumt habe, dass man uns euch wegnehmen würde, kurz bevor ihr an der Pest gestorben seid. Dass es keine Frau gab, die euch mitgenommen hat, sondern eine Krankheit, und dass sich mein junges Gehirn die Frau ausgedacht hat, um es besser verstehen zu können. Aber diese Frau, die gekommen ist... Die Freya holen wollte... Sie gab es wirklich?"

Ich versuchte, den Kloß in meinem Hals runterzuschlucken und nickte leicht. Er konnte sich noch immer daran erinnern. Er konnte sich an Freya erinnern, und an mich. Er hatte uns nie vergessen. "Ja, sie war die Schwester von Mutter. Dahlia. Sie hat Freya und mich versklavt, bis ich mich verwandelt habe und Freya..." Meine Stimme brach, aber noch bevor ich die Tränen auf meinen Wangen wegwischen konnte, schloss Finn mich in seine Arme.

"Es ist so schön, nicht mehr die einzige zu sein, die sich noch an Freya erinnern kann", schluchzte ich leise.

"Mutter hat mir immer gesagt, dass der Tag, an dem ihr verschwunden seid, nur ein Albtraum von mir war. Ich wusste, was ich gesehen hatte, aber ich wollte es nicht glauben. Ich wollte, dass es nur ein Traum war, denn ich habe mich dafür gehasst, dass ich nichts unternommen habe. Dass ich euch nicht gerettet habe."

"Finn", sagte ich sanft und löste mich ein wenig von ihm, um in seine Augen zu sehen. "Du warst nicht einmal vier Jahre alt. Du hättest nichts tun können."

"Und du warst fünf", antwortete er leise. "Fünf Jahre, und dennoch hast du nicht zugelassen, dass Freya alleine gehen musste. Fünf Jahre, und du hast sie nicht aufgegeben. Ich hätte genauso stark sein müssen, wie du es warst, aber ich konnte es nicht. Kannst du mir jemals verzeihen?"

"Es gibt nichts zu verzeihen", widersprach ich fest. "Ich bin froh, dass Dahlia nicht auch noch dich bekommen hat. Das Leben bei ihr... war nicht gerade angenehm. Ich hätte es niemals ertragen, wenn du das auch hättest durchmachen müssen. Es war gut, dass Freya und ich nicht alleine waren, dass wir uns gegenseitig hatten, um bei Verstand zu bleiben. Aber ich bin froh, dass du bei Mutter geblieben bist. In Sicherheit. Nur so konnten wir uns jetzt wiederfinden. Auch wenn das, was Klaus dir angetan hat, vermutlich schlimmer ist als-"

Ich wurde unterbrochen, als die Tür mit einem lauten Knall aufgestoßen wurde. Sofort wandten sich all unsere Köpfe zu der Frau um, die gerade ins Zimmer kam, und mir blieb augenblicklich das Herz stehen. Nein. Unmöglich. Wie war es Damon nur so schnell gelungen, den Sarg zu öffnen? Doch es gab keinen Zweifel, wer diese Frau war, die gerade seelenruhig auf Klaus zuging.

"Mutter", hauchte Rebekah leise und ich trat unwillkürlich einen Schritt zurück.

Mein Leben lang hatte ich sie gehasst, hatte mich gefragt, ob sie ihre Taten je bereut hatte. Hatte mir vorgestellt, wie ich reagieren würde, wenn ich die Frau, die mir das Leben geschenkt und es mir dann wieder genommen hatte, je wiedersehen würde. Doch ich konnte nur dastehen und wie erstarrt dabei zusehen, wie sie an uns allen vorbei lief und vor Klaus stehen blieb.

Der schien von seinen Emotionen sogar noch überwältigter zu sein als ich. Tränen liefen seine Wangen hinab und er hielt den Blick gesenkt, unfähig, unserer Mutter in die Augen zu blicken.

"Sieh mich an", forderte diese fest und bei dem Klang ihrer Stimme griff ich unwillkürlich nach Finns Hand. "Weißt du, warum ich hier bin?" Diese Stimme war das letzte gewesen, das ich gehört hatte, bevor Dahlia Freya und mich mitgenommen hatte. Freya hatte nach ihr geschrien, ich hörte ihre Schreie noch heute. Ich nicht. Ich war stumm geblieben, während Dahlia uns forttrug. Schon damals hatte ich verstanden, dass unsere Mutter uns aufgegeben hatte. Dass sie in dem Moment aufgehört hatte, um uns zu kämpfen, in dem Dahlia ihr gedroht hatte, auch ihre anderen Kinder anzugreifen. Sie hatte uns fallen lassen, um den Rest ihrer Familie zu schützen. Sie hatte nicht gewusst, was Dahlia mit uns vorhatte; schlimmer noch, sie hatte gedacht, Dahlia würde uns bei einem Opferritual verwenden. Unsere Mutter hatte Freya und mich dem Tod ausgeliefert und doch stand sie jetzt hier und wollte über Klaus urteilen, weil er ihr das Leben genommen hatte.

"Du bist hier, um mich zu töten", stellte Klaus leise fest und ich konnte in seinen Augen erkennen, dass er sich nicht dagegen wehren würde. Er dachte, er würde es verdienen, für den Mord an unserer Mutter selbst zu sterben. Und vielleicht wäre er auch lieber tot, um seine gerechte Strafe zu bekommen, als auf ewig allein zu sein. Unwillkürlich spannte ich mich an und Finn drückte meine Hand, als wollte er mich zurückhalten. Aber wenn unsere Mutter versuchen würde, meinen Bruder auch noch umzubringen, würde ich sie aufhalten. Sie hatte mir bereits Freya genommen, sie hatte mir mein ganzes Leben genommen. Ich würde nicht zulassen, dass sie auch noch meinen Bruder nahm.

Doch zu meiner Überraschung unternahm sie nichts, um Klaus anzugreifen. Stattdessen blickte sie ihm fest in die Augen und sagte: "Ich bin hier, um dir zu vergeben." Dann wandte sie sich an all ihre anderen Kinder und verkündete: "Ich will, dass wir wieder eine Familie sind."

Einige Sekunden starrten wir sie alle schweigend an. Keiner konnte so ganz begreifen, dass sie wirklich hier war. Dass sie Klaus vergeben wollte. Eine Familie sein wollte. Ich war die erste, die sich wieder genug fangen konnte, um auf diese Aussage zu reagieren. Mit einer schnellen Bewegung entzog ich Finn meine Hand und trat einen Schritt auf unsere Mutter zu. Meine Hände zitterten vor unterdrückter Wut und ich ballte sie zu Fäusten, damit sie damit aufhörten.

"Eintausendunddreiunddreißig", flüsterte ich leise. "1033 Jahre ist es her, seit wir aufgehört haben, eine Familie zu sein. 1033 Jahre, seit du mich geopfert hast. 1033 Jahre, die ich ohne dich verbracht habe. Ich habe nicht vor, dich jetzt noch auch nur eine Sekunde länger als nötig in meinem Leben zu dulden."

Aufgebracht drehte ich mich um, wurde aber von Elijah am Arm festgehalten. "Malina, beruhige dich", murmelte er leise, aber ich schüttelte seinen Arm ab. Er war mir vielleicht körperlich überlegen, aber ich war gerade zu wütend, als dass er mich hier einfach festhalten könnte.

"Nein, ich beruhige mich nicht. Diese Frau hat mein Leben zerstört. Ihr könnt gerne zu ihr gehen und so tun, als hätte sich seit tausend Jahren nichts geändert. Als ob ihr wieder eine Familie sein könntet, wie damals, als ihr alle noch Menschen wart, und glücklich. Aber ich war schon damals nicht Teil eurer Familie und werde es auch heute nicht sein. Ich will nichts mit ihr zu tun haben. Auf Wiedersehen."

Mit diesen Worten stolzierte ich aus dem Zimmer und aus dem Anwesen, ohne auch nur ein einziges Mal zu meiner Mutter zurückzublicken.

Hidden Past - The Story of Malina MikaelsonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt