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POV: Kerstin

Für zwölf Uhr hatte ich mich mit meiner Nichte beim Chinesen verabredet. Nach all dem, was mein Bruder mir am Telefon erzählt hatte, hoffte ich Jessica etwas aufbauen zu können. Zehn Minuten vor um zwölf hörte ich in der Ferne Musik.

"All alone in the dark, move the curtains for once
See the light life has brought, or goodbye forever
Take the arms that embrace, no more being afraid
Feel the sun on your face, or goodbye forever..."

Ein schwarzer VW Passat fuhr an mir vorbei, wendete und parkte in der freien Parklücke vor mir ein.

"Oh meine Süße, hast du dir ein neues Auto geleistet?", mit einer Umarmung und dem bekannten Rückenstreicheln begrüßte ich meine Nichte.
"Hallo Kerstin, ja genau den habe ich mir zum Geburtstag geschenkt. Entweder der oder ein Phaeton, aber den gab es leider nicht in Schwarz. Der Accord hätte nicht mehr lange mitgemacht.", lachte sie mich an.
"Es ist so schön dich endlich wiederzusehen, das ist jetzt auch schon wieder ein halbes Jahr her. Wollen wir noch eine Zigarette rauchen, bevor wir hereingehen?"

Nach der Zigarette betraten wir das Restaurant und wurden vom Kellner an unseren Tisch gebracht. Wir bestellten Getränke und entschieden uns für das All-You-Can-Eat-Buffet. Jessica und ich holten uns die ersten Portionen.

"Jetzt erzähl mal, meine Liebe, wie geht es dir denn?", fragte ich neugierig, aber auch besorgt.
"Papa, hat dir doch bestimmt schon alles erzählt, wie ich ihn kenne.", mit hochgezogenen Augenbrauen sah sie mich an.
"Ja, du kennst doch deinen Vater. Es tut mir wirklich leid für dich, du musst durch die Hölle gegangen sein. Ich bin so stolz auf dich, dass du den Absprung geschafft hast. Eigentlich habe ich ja ein Gespür für Arschlöcher, warum habe ich das bei Niklas die ganzen Jahre nie..."
"Kerstin... Bitte, lass gut sein. Ich möchte darüber nicht mehr nachdenken, geschweige denn sprechen. Er geht mir noch immer auf die Nerven und bringt mich an meine Grenzen, ich bin froh, wenn ich daran mal keinen Gedanken verschwenden muss.", sagte sie zu mir, mit einem sehr traurigen Blick und im ernsten Ton, ich kannte meine Jessica so gar nicht. - Das arme Kind. -
"Es tut mir leid, ich spreche das Thema nicht mehr an. Was gibt es denn sonst Neues bei dir? Hast du dir deine Wohnung schön eingerichtet? Wie läuft deine Werkstatt?"
Der Themenwechsel war gut, sie redete wie ein Wasserfall, außerdem erzählte sie mir von ihrer Heldentat.

"Na da hast du denen ja ganz schön geholfen, hast du dir denn auch einen von den reichen Jungs geangelt?", lachte ich.
"Ich habe nur auf deine Frage gewartet. Nein, egal welcher Mann jetzt kommen würde, ich brauche erstmal diese Zeit für mich. Ich muss erstmal wieder zu mir selbst finden. Ab und an mal etwas Spaß und Zeit, das ist alles, was ich brauche... und einen vollen Tank." Sie liebte das Autofahren, seit sie an ihrem 18. Geburtstag den Führerschein in den Händen hielt war sie nie ohne Auto. Als ihr Onkel sie damals nach der bestandenen Prüfung abholte, wartete ich mit meinem Bruder bei ihr zu Hause an der Einfahrt mit einem Hyundai i10 auf sie.

~*~

"Danke, für das Essen, du hättest mich wirklich nicht einladen müssen.", sagte Jessica gerührt, als wir vor dem Restaurant noch eine Zigarette rauchten.
"Du fährst dreihundertfünfzig Kilometer und denkst dich noch mehr in Unkosten stürzen zu müssen? Ach Herzilein, wann änderst du dahingehend mal deine Einstellung?", Sie winkte ab.
"Ist ja schon gut, soll ich dich noch nach Hause fahren? Du bist doch bestimmt mit den Öffentlichen hergefahren, ich drehe auch die Musik nicht so laut auf."
Wir stiegen kurze Zeit später in ihren Wagen und fuhren in Richtung Neukölln.

"Wollen wir oben noch Kaffee trinken?", fragte ich sie vor dem Altbau, in dem ich wohnte.
"Ein anderes Mal gern, ich mach' gleich weiter."

POV: Lukas//Alligatoah

Ich hatte Tim noch zum Bahnhof begleitet, wir fuhren mit einem Taxi, da mein Auto in der Werkstatt war, für den Heimweg nahm ich die S-Bahn. - Wenn ich an der nächsten Haltestelle aussteige, kann ich mir noch einen Kaffee holen und laufe den Rest. Fuck... Mir fällt gerade ein... - Schnell zog ich mein Handy aus der Hosentasche, öffnete den Chat mit Tim und fing an meine Nachricht in das Feld zu tippen.

"Tim, ich habe ganz vergessen, dich nach
der Nummer von Jessica zu fragen.
Würdest du sie um ihr "OK" bitten?
Danke."

Nach einem kurzen Fußweg von der S-Bahn-Station betrat ich das Café, am Tresen wartete eine junge Frau mit welligen braunen Haaren auf die Bedienung. - Ist das... Nein... Niemals... - Ich stellte mich an und die Bedienung kam zum Tresen.

"Hallo, einen großen Latte Macchiato zum Mitnehmen und einen Blaubeer-Muffin bitte.", hörte ich sie sagen. - Diese Stimme... Doch ich bin mir sicher, das ist Jessie. -
"Machst du bitte zwei Muffins draus und einen großen schwarzen Kaffee dazu, ich lade die Dame ein.", sagte ich, bevor Jessica bezahlen konnte. Sie drehte sich zu mir um, ich sah in ihre braunen Augen und hatte mich schon wieder in ihnen verloren.
"Du erschreckst mich sehr gern, kann das sein?", lachte sie mich an, "Womit habe ich die Einladung verdient, Herr Gatoah?"
"Darf man sich für eine angenehme Unterhaltung nicht erkenntlich zeigen."

Unsere Bestellung war fertig, Jessica nahm die Tüte mit den Muffins und ich den Becherhalter mit den Heißgetränken. Ich hielt ihr die Tür auf und wir gingen über die Straße zu ihrem Auto.
"Was machst du hier? Ich dachte, dein Hotel war nahe der Waldbühne gewesen?", fragte ich überrascht und erfreut zugleich, als ich ihr den Becher mit dem Latte Macchiato reichte.
"Vielen Dank, ...", sie nahm mir den Becher ab, "ich war gerade mit meiner Tante in Spandau Essen, habe sie heimgefahren und bin jetzt eigentlich auf dem Weg zum Tegeler See."
"Bist du ganz allein unterwegs?"
"Ja, bin ich, oder magst du mich begleiten?"
"Sehr gern, wenn ich dich nicht störe."
"Nein, natürlich nicht. Wollen wir mit meinem Wagen fahren oder getrennt?".
"Gern mit deinem, bei mir könnte es sonst länger dauern.", lachte ich, "Mein Wagen ist zurzeit in der Werkstatt... Marderschaden."
"Ja gut, dann steig ein und lass dich von dem Fangirl entführen.", sie hielt mir lachend die Tür der Beifahrerseite auf. Ich mochte ihre Art, genau mein Humor. Sie ging zur Fahrerseite, stieg ein und startete den Wagen. Die Musik begann laut aus der Anlage zu spielen und ich hörte meine Stimme.

"Ja ich habe draus gelernt, ich war Temposüchtig
Jetzt kenn ich meine Grenzen, flüchtig
Und ja! Ich fühl mich wie ein Straßenköter: Ganz scheiße
Stimmung durch riskante Fahrmanöver anheizen!..."

Mit weit aufgerissenen Augen blickte mich Jessica an. "Ich würde dann doch die S-Bahn nehmen.", lachte ich und wir fuhren los.

Wie zuhause - 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt