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POV: Jessica

"Jungs, kann ich euch schon alleine lassen? Ich würde gern losfahren, wenn das für euch in Ordnung wäre.", fragte ich in Richtung des Busses.
"Klar, kein Problem. Wir haben dich schon lang genug aufgehalten. Bis später!", ohne auf eine Reaktion der anderen zu warten, rief Igor mir zu.

Ich wandte ihnen den Rücken zu und setzte mich in mein Auto. Vom Beifahrersitz nahm ich das Brillenetui, setzte meine Sonnenbrille auf und startete den Wagen. Mein Handy koppelte ich wieder mit der Anlage und spielte meine Playlist auf Spotify weiter.

"Bin auf Koks, gar nicht zimperlich, pose am Kinderstrich
Heut mit meiner Kacke, Dicka, Kot macht erfinderisch
Ah, das ist Kot für die Welt
Mann, wir produzier'n nur Kacke, so wie Tokio Hotel
Hab' mich tierisch im Kot gesuhlt
Trailerpark, das sind die mit dem roten Stuhl..."

Lautstark tönte die Musik aus den Boxen, ich legte den Rückwärtsgang ein, setzte den linken Blinker und fuhr aus der Parklücke. Die Jungs winkten mir noch und ich dachte Lukas und Steven zwinkern zu sehen. Laut dem Navigationssystem war es noch knapp eine Stunde, bis ich am Hotel ankommen sollte. Ich ließ die letzten Stunden Revue passieren und merkte, dass ich das Treffen und die Gespräche jetzt erst realisierte. - Oh nein, nicht schon wieder, was ist denn heute los. - "Auf der aktuellen Route kommt es zu einer Verzögerung von sechs Minuten." - Gut, das ist für mich noch tragbar. - Ich ließ das Fenster auf der Fahrerseite runter und nahm den IQOS aus der Mittelkonsole. Meine Hand ging in Richtung des Lautstärkereglers, ich erhöhte die Lärmpegel um ein Minimum.

"Ich sitz' in einem Starbucks in Phuket
Mobiles Netz ist schneller als daheim
Vielleicht bringt mir dieser Urlaub ja andere Kulturen nah
Ich sitz' in einem Starbucks in Phuket (Starbucks in Phuket)
Bedient von einer Kellnerin aus Mainz (ja, aus Mainz)..."

'Wie zuhause' ist eines meiner Lieblingslieder von Alligatoah, dass ich jedes Mal mitsingen muss. Die Fahrzeuge um mich herum blendete ich einfach aus, somit auch alle Blicke der Leute "... denn ich...

"...renne vor mir selber weg und denke, wenn ich schneller als Gedanken bin
Dann lass' ich meine Fehler hinter mir
Doch sogar mit der Fähigkeit zu fliegen bleib' ich ein Gefangener
Wie dieses Federvieh in einer Legebatterie
Begebe mich in die Verlegenheit mit meiner Wenigkeit
Allein zu sein, aber da war mir meine Wenigkeit zu viel
Ich hock' im Ferienparadies mit einer mittelschweren Egoallergie"

"Ey, willst du unserem Goldkehlchen Konkurrenz machen?", vernahm ich zu meiner Linken. Ich senkte die Lautstärke meiner Anlage, drehte meinen Kopf und hoffte, im Erdboden versinken zu können. Basti rief durch das gekippte Fenster des Busses, Sudden und Timi hatten ihre Augen weit aufgerissen und Alligatoah stand mit einem leichten Lächeln aus einem rauf gezogenen Mundwinkel an der Scheibe. Peinlich berührt, winkte ich der Clique mit hochrotem Kopf zu und machte das Fenster wieder hoch. - Boar, Jess... Das machst du nie wieder!

~*~

Nach ungefähr einer Stunde Fahrt sprach das Navigationssystem die finalen Worte, "Ihr Ziel befindet sich auf der rechten Seite." Ich setzte den Blinker und stellte meinen Wagen am Bürgersteig vor dem Hotel ab. Aus meiner Tasche im Kofferraum nahm ich meine Wertsachen und checkte erstmal ohne Gepäck an der Rezeption ein. Der nette Herr überreichte mir den Schlüssel für mein Zimmer und mit dem Fahrstuhl begab ich mich in die vierte Etage, da ich schauen wollte, ob alles in Ordnung war. Nach meinem kurzen Check verließ ich das Hotel, um irgendwo Mittag essen zu können.

Nahe der Eissporthalle gibt es einen kleinen Imbiss, bei dem sollte ich etwas für die Mahlzeit finden. Während ich auf das Essen wartete, meldete ich mich über WhatsApp bei Ena und meinen Eltern, dass ich Berlin erreicht hatte. Mein Nachrichtenton ertönte als ich mein Handy zurück in meine Hosentasche stecken wollte.

"Tut mir leid, dass ich heute
früh wieder so ausfällig geworden bin.
Also gehen wir morgen Abend essen?
Wir können ja zu deinem liebsten
Italiener gehen, ich lade dich auch ein.
Ich versuche, mich zu ändern.
In Liebe Niklas"

Ich las die Nachricht und hatte wieder einen Kloß im Hals. Ohne Niklas zu antworten, steckte ich mein Handy in die Hosentasche und nahm das fertige Essen zu mir. – Bei jeder Nachricht oder jedem Anruf von ihm spürte ich wieder den Schmerz, den er mir die letzten Jahre zugefügt hatte. Jedes Mal fiel ich wieder kurzzeitig in ein tiefes Loch.

~*~

Zurück am Hotel öffnete ich den Kofferraum meines Wagens und nahm meine Reise- und meine Handtasche heraus. Meine Tante, welche hier in Berlin wohnte, rief mich an, als ich gerade auf den Fahrstuhl wartete.
"Hallo Kerstin, kann ich dich in zehn Minuten zurückrufen?"
"Hallo meine Liebe, natürlich, bis gleich.", hörte ich sie sagen und legte auf.

Schnell räumte ich meine Kleidung in den Schrank, stellte den Kulturbeutel in das Badezimmer und meine Reisetasche in die Ecke. Ich nahm mir meine Zigarettenschachtel, setzte mich auf den Balkon des Hotelzimmers und rief meine Tante zurück. Wir unterhielten uns ein bisschen und verabredeten uns für Sonntag zum Mittagessen im All Seasons.

- 15:43 Uhr - erblickte ich nach dem Telefonat auf dem Bildschirm meines Handys, - So langsam könnte ich anfangen, mich fertig zu machen. - Ich holte meinen kleinen Bluetooth-Lautsprecher aus meiner Tasche und ging in das Badezimmer unter die Dusche.

"Gimme all your love, all your tears
All the hate you feelGimme all your love, your pain, your thrill
Gimme all your memories, melodies, remedies now
'Cause I wanna burn them"

Gelegentlich wurde die Musik durch eingehende Nachrichten unterbrochen, aber das überhörte, oder besser gesagt übertönte ich gekonnt. Nach der Dusche zog ich mir meine Unterwäsche wieder an, nahm meinen Kulturbeutel und kramte meine ganze Schminke heraus. - "Ich habe keine Beautymaske gegen meine Gruselfratze..." -, planlos betrachtete ich mein Spiegelbild. "Und was stelle ich jetzt mit dir an?"

Wie zuhause - 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt