Kapitel 39

691 64 13
                                    

Die Treppe eilte ich nach unten, um mich meinem Bruder zu stellen. Ich würde es sicherlich hinbekommen, das Erlebte vor ihm zu verbergen. So irgendwie. Natürlich setzte das voraus, dass Nero es genauso tat, was ich für ihn hoffen wollte.

Ich fuhr mir erneut durch die Haare, allerdings kam dann Ian in mein Sichtfeld, weshalb ich das schnell unterließ.

Er fragte mit erhobener Augenbraue: "Wo warst du?"

"Ian, eigentlich wollten wir gerade schlafen gehen. Es ist nämlich bereits Abend, wie dir die Uhr erklären sollte. Normale Menschen gehen dann schlafen." Damit war das gut abgetan und er dürfte es schlucken.

Er seufzte und meinte: "Ja, tut mir leid. Ich mach mir einfach ungefähr zehntausend Sorgen. Als ich dich nicht sofort gefunden habe, haben sich die nochmal erhöht." Ich tat es mit einer Handbewegung ab und kam auch schon vor ihm an. Mein Bruder schloss mich in seine Arme und diese Umarmung erwiderte ich gleich.

Wenn der nur wüsste, was ich erst vor ein paar Minuten mit seinem besten Freund getan hatte. Vermutlich würde er mich, eher Nero, umbringen oder allgemein austicken. Ich persönlich empfand eine positive Reaktion seinerseits als unwahrscheinlich.

"Ever, es ist schön dich zu sehen. Ich habe meine kleine Schwester vermisst."

"Ich dich auch. Ich bin so erleichtert endlich weg von Calvin zu sein." Trotzdem hörte man meiner Stimme leider eine gewissen Anspannung an. Das mit Nero hatte mich vollkommen durch den Wind gebracht.

Besagten hörte ich hinter mir die Treppe herunterkommen und dabei sagte er leicht genervt: "Ian, ich habe dich eigentlich erst morgen erwartet."

Mein Bruder löste sich von mir und fragte empört: "Siehst du etwa deinen besten Freund nicht gerne?"

"Doch, aber ich bevorzuge passendere Uhrzeiten dafür."

Ich drehte mich zu ihm um und er knöpfte ernsthaft erst jetzt sein Hemd zu. Damit schrie Nero einem doch praktisch ins Gesicht, dass er halbnackt gewesen war.

Es war ein Wunder, aber mein Bruder schöpfte keinen Verdacht oder empfand es als seltsam. "Ist ja gut, aber ich wollte unbedingt zu meiner Schwester. Nach dem mit Calvin ist das wohl verständlich."

Sofort gab ich ihm die Antwort, bevor Nero etwas Dummes sagte: "Ja, natürlich. Ich freue mich selbst dich zu sehen. Es ist gut, dass du gleich gekommen bist." Alleine, weil er mich vor weiterem peinlichen Verhalten bewahrt hatte.

Nero und ich.

War das wirklich passiert?

Mein Hirn wollte das nicht ganz glauben, denn dafür klang es viel zu verrückt. Es musste praktisch eine Halluzination gewesen sein. Falls nein, sollte ich Nero auf ewig meiden. Das war viel zu peinlich. Nur bei dem Gedanken daran wurden meine Wangen rot.

Schnell wandte ich mich an meinen Bruder, denn Nero hatte in dem Moment meinen Blick erwidert. Und genau das machte mich fertig.

Wie sollte ich es zukünftig in seiner Nähe überleben?

Am besten war ab jetzt immer jemand anderes genauso anwesend. So könnten wir nie darüber sprechen und würden es glücklich totschweigen.

Ian zog mich erneut in seine Arme, was ich gerne zuließ, denn dadurch konnten wir einander nicht mehr ins Gesicht sehen. Es mag vollkommen irrational sein, aber ich hatte die Sorge, dass er es erkennen könnte oder auch nur erahnen.

"Ach, Ever, endlich bist du in Sicherheit. Ich war unfassbar erleichtert, als ich hörte, dass du bei Nero bist. Er wird immer gut auf dich aufpassen, bei ihm muss man keine Bedenken haben."

Wenn er nicht mal Bedenken hatte, wenn ich mit seinem besten Freund im Bett landete, dann auf jeden Fall. Aber das behielt ich besser für mich, um den Frieden im Haus zu behalten.

Nero antwortete daraufhin: "Das ist für mich selbstverständlich. Deine Schwester ist bei mir in den besten Händen." Das konnte man zweideutig verstehen, zumindest tat das mein verfluchtes Hirn. Nie wieder würde ich das loswerden.

Nie wieder.

Mein Bruder löste sich wieder von mir und damit hatte ich seine schützenden Arme um mich verloren. Mit einem leichten Lächeln sah ich zu ihm auf und Ian gab ein Seufzen von sich. Man konnte an seinem Gesicht erkennen, dass er in letzter Zeit fiel um die Ohren hatte. Er wirkte übermüdet und hatte vermutlich auch viel zu viel gearbeitet. Aber schließlich fing er genauso zu lächeln an, was ihn weniger erschöpft aussehen ließ und sein Blick wanderte zu seinem besten Freund hinüber.

"Ja, ich weiß, Nero. Wie lief es überhaupt? Hat Calvin Probleme gemacht oder gab es Auffälligkeiten?"

Der Mann mit den atemberaubend grünen Augen stellte sich nun direkt neben mich, was mich unwohl fühlen ließ. Erst vor ein paar Minuten sprang ich ihn freiwillig an und jetzt war es mir unangenehm in seiner Nähe. Wie schnell sich das doch ändern konnte.

Nero war derjenige, der antwortete: "Nein, ich konnte Ever unverletzt mitnehmen und hierher bringen."

Naja, dennoch hatte es eine kleine Komplikation gegeben. Aber das musste mein Bruder zwangsläufig nicht wissen. Er würde sich unnötig aufregen, was man sehr einfach verhindern konnte.

Um dieser Lage für heute zu entkommen, sagte ich nach einem Räuspern: "Gut, Jungs, ich bin wirklich verdammt müde. Ich werde schlafen gehen und wir sehen uns morgen in der Früh wieder." Ian meinte gleich: "Ok, schlaf gut und erhol dich." Mit einem leichten Lächeln nickte ich ihm zu und wandte mich auch schon ab.

Ich machte genau einen Schritt da setzte Nero an: "Ever..." Allerdings unterbrach ich ihn sofort: "Ja, dir auch eine gute Nacht. Bis morgen." Damit hatte ich ihn hoffentlich zum Schweigen gebracht.

Zu meinem Schock schloss er mit mir auf, als ich die Treppe hoch ging und sagte dabei: "Ich zeige dir dein Zimmer."

Wollte er ernsthaft mit mir reden? Vielleicht noch über das vorhin, dann würde ich endgültig tot umfallen.

Um vor Ian keine Fragen aufzuwerfen, konnte ich schlecht behaupten, dass wir dort vorhin längst gewesen waren. Zu meinem Glück fiel mir eine tolle Ausrede ein. "Deine Wegbeschreibung hat das Zimmer für mich unverfehlbar gemacht. Das Haus mag riesig sein, aber ich komme zurecht." Verbissen konzentrierte ich mich auf die Stufen vor mir und betete, dass er nachgab.

"Nein, ich bestehe darauf. Ansonsten wäre ich ein schlechter Gastgeber."

Ich blieb stehen, stemmte meine Hände in die Hüften und sah nun doch zu ihm hinüber. Mit erhobener Augenbraue fragte ich empört: "Hältst du mich für unfähig?" Der Mann neben mir blieb genauso stehen und antwortete: "Nein, ich möchte höflich sein."

Bevor ich etwas erwidern konnte, wandte Ian ein: "Nero, lass sie alleine gehen, wenn Ever das schon will. Außerdem könntest du mich dann auf den neuesten Stand bringen." Für diese unbewusste Hilfe war ich meinen Bruder unfassbar dankbar.

In einem erneuten Fluchtversuch eilte ich die Treppe weiter hoch und endlich antwortete Nero: "Na gut, dann eben so."

Allerdings war ich tatsächlich unfähig, denn gerade als ich im oberen Stock ankam, musste ich selbstverständlich umknicken und ging unelegant mit einem leichten Schmerz zu Boden. Trotzdem rief ich sofort: "Alles ok! Ich hab mir nicht weh getan!"

Ian unterdrückte ein Lachen, welches durchaus nachvollziehbar war. "Ich hab mich vorhin schon gefragt, ob du betrunken bist." Auf seinen Kommentar ging ich nicht weiter ein und rappelte mich vom Boden auf. Meine armen Wangen glühten längst und waren sicherlich feuerrot.

Wenigstens kam von Nero kein Ton und ich konnte maßlos gestresst meinen Weg fortsetzen.

A Million Reasons | ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt