[E] Rollentausch

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Marco verlässt um kurz vor zehn die Wohnung und ich schalte den Fernseher aus und fange an, mich in meine Rolle zu verwandeln. Ich mache mich frisch, schminke mich dezent, fasse meine Haare streng mit einer Klammer zusammen und ziehe schwarze Spitzenunterwäsche, die halterlosen Strümpfe, den Rock und die Bluse an. Zum Schluss lege ich ein eher schweres, klassisches Parfum auf, ziehe die hohen Pumps an und meinen Mantel über. Marco hat jetzt ca. 20 Minuten Vorsprung. Zu lange will ich ihn auch nicht warten lassen, also mache ich mich auf den Weg.

In der Bar, die wir ausgewählt haben, angekommen, sondiere ich die Lage, während ich meinen Mantel an der Garderobe aufhänge. Die meisten der kleinen Tischchen sind von Pärchen und kleinen Gruppen belegt. Marco sitzt mit einem Glas Whiskey an der Bar und ich nehme ein paar Plätze neben ihm Platz. Ein Herr im Anzug um die vierzig sitzt nun in gleicher Entfernung zu mir auf der anderen Seite.

Ich widerstehe kurz dem Reflex, ein Bier zu bestellen und lasse mir stattdessen einen Gin Tonic bringen.

Der Herr links von mir lächelt mir zu und ich erwidere die Geste. Ich hoffe mal, Marco spricht mich an, bevor der Herr auf die Idee kommt, sonst wird es kompliziert. Nachdem ich den ersten Schluck von meinem Getränk genommen habe, höre ich Marcos Stimme neben mir.

"Entschuldigung, dass ich Sie einfach so anspreche."

Ich drehe mich zu ihm um und lächle ihn aufmunternd an, muss aber aufpassen, durch die Absurdität der Situation nicht zu lachen.

"Ich habe mich gefragt, ob ich Ihnen ein wenig Gesellschaft leisten darf." fährt er fort. Er trägt ein schwarzes T-Shirt und eine Jeans. Bis auf die geflochtene Lederhalskette und die schwarzen Chucks also nichts Ungewöhnliches.

Ich deute auf den Hocker neben mir: "Bitte. Ein wenig Gesellschaft schadet sicher nicht, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob ich heute eine gute Gesprächspartnerin bin. Mein Tag war ziemlich lang. Aber bitte, setzen Sie sich."

Marco setzt sich und hebt sein Glas, um mit mir anzustoßen. Ich stoße an, schaue ihm in die Augen und sage: "Ich bin Franzi."

"Oli. Freut mich, dich kennenzulernen."

Wir trinken einen Schluck und es folgt diese kurze Stille, in der beide nach einem Anfang für ein Gespräch suchen.

"Kommst du von hier?" will ich von 'Oli' wissen.

"Nein, ich bin praktisch auf der Durchreise. Und du?"

"Ich bin auf Geschäftsreise hier. Wo reist du denn hin?"

"Der Weg ist das Ziel. Ich bin gerade auf Tour." Er erzählt mir von den nächsten Stationen seiner imaginären Tour.

"Bist du Musiker?" Ich muss lächeln bei dem Gedanken, dass das fast meine Backstory gewesen wäre.

"Ja, genau. Wir sind schon eine Weile unterwegs und heute ist einer der seltenen Abende, an dem ich frei habe. Solche Gelegenheiten muss man nutzen, um mal etwas Abstand von der Band zu haben."

"Eine Band? Wie heißt ihr?"

"The Creeping Chaots" meint 'Oli' und lächelt dabei. Ich erinnere mich daran, dass das der Name seiner Band aus Teenie-Zditen war und ich muss ebenfalls lächeln. Ein alternativer Lebensentwurf als Backstory. Nicht schlecht.

Ich improvisiere: "Wirklich? Wie krass, ich höre hin und wieder ein paar eurer Songs! Sorry, dass ich dich nicht erkannt habe, aber ich schau mir selten an, wie Musiker aussehen, ich kenne nur die Musik. Was spielst du?"

"Ich bin der Gitarrist."

"Oh, wow. Ich finde eure Musik echt toll! Aber du hast gemeint, du bist froh, heute ein bisschen Abstand von der Band zu haben, da willst du sicher nicht über eure Musik reden."

Mina IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt