Heimatbesuch

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Am Samstag starten wir um 8 Uhr. In der Nacht auf Samstag konnte ich nicht schlafen. Zu groß ist meine Nervosität. Was erwartet mich in meiner alten Heimat? Wie wird dieser Tag enden? Um halb sechs gebe ich den Versuch, zu schlafen, auf und verbringe viel zu viel Zeit damit, mir zu überlegen, was ich anziehen soll. Heute will ich nicht durch meine Kleidung provozieren, also entscheide ich mich für eine schwarze Hose, eine schlichte, dunkelgrüne Bluse und meinen grauen Mantel. Marco holt mich pünktlich daheim ab und wir kommen gut voran, so dass wir das Ortsschild zum Dorf meiner Kindheit um kurz nach 11 Uhr passieren. Ich weise Marco auf den Parkplatz vor dem Friedhof.

Wenn ich schon hier bin, will ich neben den lebenden auch die toten Verwandten besuchen. Ich habe zwei Rosen gekauft, die ich jetzt vom Rücksitz nehme. Ich bitte Marco, mitzukommen und gehe mit ihm zusammen über den knirschenden Kies des kleinen Friedhofs. Zwischen den gleich aussehenden Gräbern, die alle mal mit helleren, mal mit dunkleren Granitplatten bedeckt sind, dauert es kurz, bis ich die Gräber finde. Neben dem Familiengrab der Familie Lehmann befindet sich das Grab der Familie meiner Mutter. Ich lege die Rosen auf den beiden Gräbern ab und sehe, dass die Namen eines Onkels und die der beiden Schwestern meiner schon lang verstorbenen Oma in den letzten Jahren in die dunklen Stein graviert wurden. Und ich merke, dass es mich nicht berührt. Klar kannte ich alle drei, doch ihre Position zu mir, als meine Eltern mich aus dem Haus geworfen haben, haben sich so tief in mein Gedächtnis gebrannt, dass es mir schwer fällt, an Dinge zu denken, die ich an ihnen vermissen könnte.

Ich wende mich von den Gräbern ab. Den Sinn darin, ein Grab besuchen zu müssen, um sich an einen Menschen zu erinnern, habe ich noch nie verstanden und der Besuch heute war eher dazu gedacht, mich auf den Ort und meine Familie einzustellen. Daher hake ich diesen Punkt emotionslos ab und erkläre Marco, als wir auf das Tor des Friedhofs zugehen:

"Von hier sind es noch etwa 300m bis zur Metzgerei. Wenn du magst, kannst du ein Stück mitkommen, dann zeige ich dir, wo es ist. Dann kannst du ja ein bisschen spazieren gehen, bis ich fertig bin. Ich habe das Gefühl, dass es nicht lange dauern wird. Ich ruf dich dann an, dann treffen wir uns am Auto wieder. Okay?"

Wir gehen die Straße entlang, die mir gleichzeitig bekannt und doch fremd vorkommt. Das eine oder andere Haus wurde zwar renoviert, aber die Straße wirkt trotzdem, als wäre sie komplett unverändert. Als wäre es gar nicht möglich, hier irgendetwas zu verändern. Dann biegen wir um eine Ecke und ich halte an. "Da vorn ist die Metzgerei."

Marco gibt mir einen Kuss. "Du tust das Richtige."

Er bleibt stehen und ich gehe alleine weiter.

Ich stehe noch etwa 30 Meter von der Metzgerei entfernt auf der anderen Straßenseite und versuche, zu erkennen, auf wen ich dort treffen würde. Tatsächlich steht hinter der Theke ein kräftig gebautes Mädchen, welches vom Alter her durchaus meine Schwester sein könnte. Sie hat ihre langen, dunklen Haare zu zwei Zöpfen geflochten und trägt unter der Schürze mit dem Logo der Metzgerei ein altmodisch geblümtes Kleid. Ich bin erleichtert, sie zu sehen. Einen guten Plan B, was ich tue, wenn ich sie dort nicht antreffe, hatte ich nicht. Ein Kunde betritt das Geschäft und eine Frau kommt aus dem Hinterzimmer nach vorn. Es ist nicht meine Mutter, sondern eine meiner Cousinen. Ich frage mich, ob ich enttäuscht oder erleichtert bin. Ich beobachte, wie die beiden den Kunden bedienen und dieser das Geschäft wieder verlässt.

Dann nehme ich meinen ganzen Mut zusammen und gehe zügig über die Straße zur Metzgerei. Jetzt oder nie. Die blecherne, elektronische Glocke über der Eingangstür verursacht eine Gänsehaut. Welche Erinnerungen allein dieses Geräusch auslöst. Und auch der Geruch der Metzgerei, der mir entgegenschlägt, löst eine Lawine an Erinnerungen aus.

Meine Cousine wendet sich mir zu und fragt mich, wie sie jeden anderen Kunden auch fragen würde, was ich möchte.

"Hallo Martina. Erkennst du mich?"

Mina IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt