Eindringlich

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Der erste Teil der Arbeitswoche verläuft angenehm ruhig. Am Mittwoch ist der erste Mai und damit ein entspannter freier Tag, den ich mit Marco mit einer kleinen Wanderung durch die nahe gelegenen Wälder verbringe.

Am Donnerstag begrüße ich Lukas, einen der Praktikanten, der den letzten Monat schon in einer anderen Arbeitsgruppe verbracht hat, in meinem Team. Ich zeige gerne interessierten Studierenden meinen Arbeitsalltag und helfe ihnen, für sich herauszufinden, welche Arbeitsumgebung für sie das richtige ist und was später von ihnen erwartet wird. Dementsprechend freue ich mich auf Lukas, der kurz vor seinem Bachelor-Abschluss in Architektur steht. Allerdings hat mich Max letzte Woche darauf hingewiesen, mit Kritik in diesem Fall sparsam umzugehen, da Lukas wohl Herr Albrechts Neffe ist. Ich nehme mir vor, Lukas trotzdem wie jeden anderen Praktikanten zu behandeln, schließlich soll er Erfahrungen für das Berufsleben sammeln und keine Extra-Behandlung erhalten, nur weil es das Büro seines Onkels ist.

Schon am Donnerstag Mittag weiß ich, warum Max betont hat, ich solle mich mit Kritik zurückhalten.. Lukas ist der unmotivierteste Praktikant, den ich je getroffen habe. Er erledigt zwar die Aufgaben, die ihm gegeben werden, allerdings komplett ohne Eigeninitiative und mit möglichst wenig Aufwand für ihn.

Nachdem ich ihm ein bisschen was über meine Arbeit erzählt habe, gebe ich ihm drei Ordner eines gerade abgeschlossenen Projektes und bitte ihn, dort alle Pläne und Zeichnungen herauszunehmen und in einem leeren Ordner zu sammeln. Nachdem er eine halbe Stunde lustlos in dem obersten Ordner geblättert hat, frage ich ihn, ob er klar kommt, woraufhin er erklärt hat, er könne nicht anfangen, da er keinen leeren Ordner hat. Also schicke ich ihn zu Max, um den Ordner zu besorgen, woraufhin er sich tatsächlich an die Arbeit macht. Eine Stunde später fragte ich, nachdem Lukas die letzten Minuten am Handy verbracht hat, erneut nach, ob er vorankommt. Daraufhin erklärte er, er sei mit dem ersten Ordner fertig und wäre nicht sicher, ob er die anderen Ordner ebenfalls bearbeiten solle.

Im Normalfall würde ich ihm jetzt erklären, dass ich von ihm erwarte, selbstständiger zu arbeiten oder wenigstens zu fragen, wenn etwas unklar ist - schließlich ist er ja schon seit einem Monat hier in der Firma. Doch beim Neffen des Chefs atmet man eben einmal durch und vertagt das Thema vorerst. Vielleicht reicht es ja, ihm genauere Anweisungen zu geben.

Am Nachmittag haben wir eine Besprechung, bei der er, statt dem Inhalt zu folgen, auf seinem Schreibblock herumkritzelt. Herr Albrecht, ebenfalls in der Besprechung, lobt Lukas zu Beginn und erinnert uns daran, wie wichtig Praktika für Studierende sind und dass er erwartet, dass wir Praktikanten generell in die Arbeit mit einbeziehen und sie nicht zu niedrigen Tätigkeiten abstellen sollen. Als Beispiel nennt er das Sortieren von Ordnern. Hat Lukas das etwa in der Mittagspause seinem Onkel erzählt? Herr Albrecht lenkt ein, dass das natürlich auch zur Arbeit gehört und in dem Maße auch in Ordnung ist, aber nicht überstrapaziert werden darf. Herr Albrecht wirft mir einen kurzen Blick zu. Lukas lächelt. Und ich befürchte, dass die nächsten Wochen sehr anstrengend werden.

Nach der Besprechung - ich lasse Lukas trotz des Seitenhiebs meines Chefs die Ordner zu Max bringen, damit dieser ihm zeigt, wie sie archiviert werden - gehe ich zu Fabian ins Büro um ihn leise nach seinen Erfahrungen mit Lukas in den letzten Wochen zu befragen.

Als ich zurück in meinem Büro bin, ist aus der Befürchtung eine Gewissheit geworden. Lukas ist ein arroganter Schnösel, der keinerlei Ambitionen hat zu arbeiten, sondern stattdessen erwartet, das Architekturbüro von seinem Onkel zu übernehmen. An der Arbeit als Architekt ist er nicht interessiert, er möchte gleich zum Chefposten übergehen und Aufgaben an Mitarbeiter delegieren.

Ich werde am Wochenende Ben und Marco um Rat fragen. Ich weiß, dass die beiden öfter mit Praktikantinnen und Praktikanten zu tun haben.

Am Freitag bin ich froh, als es endlich 12 Uhr ist. Nicht, weil ich heim gehe, sondern weil Lukas sich ins Wochenende verabschiedet und ich meine Ruhe habe. Es ist wirklich anstrengend mit ihm. Normalerweise gebe ich einem Praktikanten eine Aufgabe, mit der er einige Stunden beschäftigt ist und habe dann meine Ruhe, um mich um meine eigene Arbeit zu kümmern. Doch Lukas braucht ständige Betreuung oder er hört einfach auf, zu arbeiten.

Mina IIWo Geschichten leben. Entdecke jetzt